er neben dem Wein- auch den Fernsehgenuss übertrieben, mangels anderweitiger Gesellschaft. Vielleicht sollte er es mal mit einem Kaffee versuchen.
Cappuccino sei alle, signalisierte ein rotes Lämpchen. Es schien ein wenig zu blinzeln. Also entschied sich Stahnke für »Kaffee mit Kaffeeweißer und Zucker«. Der Automat schluckte die Münzen und spie heiße Flüssigkeit aus. Allerdings keinen Becher, so dass die Plörre direkt in den Ausguss lief. Das Plätschern und Gurgeln erinnerte entfernt an unterdrücktes Lachen.
»Eigentlich wollten wir da ja noch Fingerabdrücke nehmen.« Der Vorwurf, der in Kramers Stimme mitschwang, wurde durch einen Anflug von Schadenfreude leicht gemildert.
»Oh.« Stahnke versteckte die kräftigen Hände in den Taschen seines Trenchcoats. Dort trug er sie ohnehin am liebsten. »Dann berichten Sie mal«, sagte er, denn ein Themenwechsel schien angebracht.
»Ein Küchenmesser«, referierte Kramer. »Klinge knapp zwanzig Zentimeter lang, sehr scharf. Glatt eingedrungen, genau zwischen zwei Rippen hindurch. Herzkammerperforation. Der Tod dürfte sofort eingetreten sein.«
Der Tote lag auf dem Rücken, längs vor der Spüle, von der Tür zur Redaktions-Teeküche halb verborgen. Stahnke runzelte die Stirn, während er die Leiche betrachtete. Eigentlich gab es nichts Ungewöhnliches zu sehen, wenn man einmal die Tatsache, dass da ein Mann von höchstens fünfunddreißig Jahren mit einem Messer in der Brust tot am Boden lag, nicht als ungewöhnlich einstufte; so etwas erlebte man eben gelegentlich in diesem Beruf. Nein, Leichen an sich irritierten den Hauptkommissar nicht mehr. Aber was dann?
Der Tote war mittelgroß und halbwegs schlank, trug braune Halbschuhe, blaue Jeans und ein schwarzblau kariertes Holzfällerhemd, auf dem sich rund um die Klinge, die zu etwa zwei Dritteln eingedrungen war, ein recht kleiner Blutfleck ausgebreitet hatte – bester Beleg für einen sauberen Stich und einen schnellen Tod. Das Gesicht war oval, die Frisur weder lang noch kurz, die Brille mittelgroß, das Gestell mittelstark. An diesem Mann gab es so gar nichts Auffälliges. War es womöglich das, was ihm aufgefallen war?
Nein. »Kramer«, sagte Stahnke, »schauen Sie doch mal, wie der liegt.«
Kramer schaute. Und zuckte die Achseln. »Auf dem Rücken«, sagte der Oberkommissar in einem Ton, als habe er noch niemals etwas Überflüssigeres ausgesprochen.
»Quatsch«, sagte Stahnke. »Oder ja, natürlich auf dem Rücken. Aber wie er daliegt! Total – na, ungeschickt eben, nicht wahr? Steif und irgendwie paddelig. So liegt man doch nicht.«
Kramer betrachtete seinen Vorgesetzten wie ein freundlicher Arzt einen eingebildeten Kranken. »Steif ist er jedenfalls«, sagte er dann. Den Rest ließ er unkommentiert, und das sagte alles.
»Wann ist der Tod denn eingetreten?«, fragte Stahnke.
»Gestern Abend zwischen halb elf und halb zwölf«, antwortete Kramer. »Um halb elf hat man ihn nämlich noch unten in der Technik gesehen. Irgendwann in der Stunde danach muss es ihn dann erwischt haben.«
»Was hatte er denn um diese Zeit noch hier zu suchen?«
»Der Mann«, Kramer blätterte in seinen Notizen, »übrigens ein gewisser Thomas Kretschmer, ist oder vielmehr war Sportredakteur der Ostfriesland-Nachrichten, gestern Abend hatte er Dienst, und Kickers Emden hat gespielt. Fußball-Oberliga. 0:3 verloren. Den Spielbericht hat Kretschmer noch aktuell geschrieben. Dann hat er sich in der Technik vergewissert, dass alles passte, und ist gegangen. Unten dachten alle, er sei nach Hause. Offensichtlich aber ist er noch einmal in den ersten Stock zurückgekehrt und in die Teeküche gegangen. Tja, und da liegt er immer noch.«
»Thomas Kretschmer also.« Stahnke war nicht gerade sportbegeistert, aber die Artikel mit dem Kürzel »teka« hatte er immer gerne gelesen. Nicht der Themen wegen, sondern weil ihm der Stil gefiel. Kretschmer hatte sich stets weniger für Resultate interessiert als für die Dramaturgie von Sportereignissen. An welchem Punkt war die Partie gekippt, welches Detail hatte sich im Nachhinein als richtungweisend herausgestellt? Kretschmer hatte einen scharfen Blick für die innere Struktur von Geschehnissen gehabt. Und sich Stahnke damit als verwandte Seele empfohlen.
»Gibt es schon eine Tätervermutung?«, fragte der Hauptkommissar. »Hatte Kretschmer Feinde?« Sportredakteure konnten sich schnell unbeliebt machen. Mehr als ein Trainer verdankte Kretschmers spitzer Feder schließlich einen vorzeitigen Jobverlust, und auch mit manchem Spieler war »teka« nicht eben freundlich umgesprungen. Wobei er seine Kritik zumeist in subtile Formulierungen kleidete. »Jatzke verwaltete den linken Flügel« – herrlich vernichtend. Aber ob Fußballer das überhaupt kapierten?
Kramer schüttelte den Kopf: »Ich habe bisher nur mit dem Hausmeister und den Sekretärinnen sprechen können; die Redakteure kommen erst später. Kretschmer scheint allgemein beliebt gewesen zu sein. Höflich, zurückhaltend, eben ein richtig netter Kollege.«
Stahnke nickte. Dieses Sozialprofil deckte sich hundertprozentig mit der äußeren Erscheinung des Ermordeten. Dabei steckten hinter dieser unscheinbaren Schale doch ein scharfer analytischer Geist und ein überdurchschnittliches Stilgefühl. Eine seltsame Diskrepanz, aber beileibe keine seltene. Der Hauptkommissar rieb sich die runden Wangen. Gab es nicht auch bei ihm selbst diesen seltsamen Kontrast zwischen körperlicher Plumpheit und geistiger Eleganz?
Allerdings hatte ihn noch keiner deshalb umgebracht.
Er räusperte sich: »Kennen wir schon die Herkunft der Tatwaffe?«
»Sie stammt vermutlich aus der Schublade dort drüben«, sagte Kramer. »Dort gibt es ein ganzes Sammelsurium an Besteck und Küchengerätschaften, lauter Einzelstücke. Hier werden nämlich immer die Geburtstagsbrötchen geschmiert und die Kuchen aufgeschnitten, da bleibt immer mal etwas liegen.«
Der Messergriff war schwarz, offenbar aus Plastik. Das war günstig. »Fingerabdrücke?«
Kramer nickte. »Sind abgenommen und werden gerade untersucht. Es scheinen die Abdrücke einer einzigen Person zu sein.«
»Das könnte uns ja den Job ein bisschen erleichtern.« Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Was, wenn der Täter nicht zu den Beschäftigten der »Ostfriesland-Nachrichten« gehörte, sondern von außen gekommen war? Dann würden ihnen die Abdrücke herzlich wenig nützen. Es sei denn, er wäre ein Profi, den sie bereits in ihrer Kartei hatten. Aber diese Leute hinterließen gewöhnlich überhaupt keine Spuren.
Erneut musterte Stahnke den Toten. Auf sein Äußeres hatte Kretschmer sichtlich keinen Wert gelegt. Kleidung und Frisur drückten bewusste Nachlässigkeit aus, ohne bereits verkommen zu wirken. Als Sportredakteur musste er tagtäglich mit dem Körperkult, der in dieser Szene herrschte, konfrontiert gewesen sein. Diesem Kult hatte er sich offenkundig verweigert. Und andere Schwerpunkte gesetzt. Stahnke glaubte in einen Spiegel zu blicken.
»Chef.« Kramer winkte ihn hinaus auf den Flur. »Dies hier ist Frau Antje Winkler, Lokalredakteurin. Sie hat den Toten gut gekannt.«
Antje Winkler war mittelgroß, rotblond und sommersprossig; ihr Make-up war um die Augen herum verwischt, aber sie hatte sich bereits wieder im Griff. Trotzdem beschloss Stahnke, sich dem Thema auf Umwegen zu nähern. »Wer hat eigentlich Zugang zu den Räumen der Redaktion?«, fragte er. »Abends, meine ich.«
Die Rotblonde antwortete mit Turbogeschwindigkeit; Stahnke staunte, dass sich die Worte, die sich da im Eiltempo über ihre leuchtend roten Lippen drängten, nicht gegenseitig beiseite rempelten. »Praktisch jeder, der einen Schlüssel zu diesem Haus hat, und das sind alle, die hier beschäftigt sind. Es gibt zwar eine Zwischentür, die sich nur mit den Schlüsseln der Redaktionsangehörigen öffnen lässt, aber die steht häufig offen. Da verlässt sich immer einer auf den anderen, und am Ende ist dann wieder eine Kamera weg.«
»Heute früh war die Zwischentür aber zu«, unterbrach Kramer. »Ordnungsgemäß abgeschlossen. Hat der Hausmeister ausgesagt.«
»Das heißt also, die Tür wurde nach dem Mord abgeschlossen«, überlegte Stahnke. »Womöglich vom Mörder selbst. Das würde den Kreis der Verdächtigen auf die Redaktionsmitglieder eingrenzen. Es sei denn, Kretschmer hätte sich und seinen Mörder selbst hier eingeschlossen,