Peter Gerdes

Stahnke und der Spökenkieker


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ein. »Laut Hausmeister waren alle Fenster geschlossen, und Kretschmers Redaktionsschlüssel haben wir am Bund in seiner Hosentasche gefunden.«

      Fleißiger Kramer. Also einer von Kretschmers Kollegen. Stahnke wandte sich wieder an die Lokalredakteurin: »Frau Winkler, wie war denn Kretschmers Verhältnis zu den anderen Redaktionsmitgliedern? Gab es da Spannungen, Rivalitäten, vielleicht sogar Feindschaften?«

      Die Rotblonde zuckte die Schultern: »Eigentlich war der Thomas ziemlich beliebt. Feinde hatte er hier bestimmt nicht, so nett und höflich, wie er immer war.« Sie runzelte die Stirn: »Spannungen gibt’s natürlich immer irgendwie, nicht wahr. Ich weiß, dass die Typen aus der Reportage nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Aber das war purer Neid. Diese Reporter halten sich ja für die absoluten Edelfedern, und auf die Sportler und die Lokalen gucken sie verächtlich herab, das ist in jeder Zeitung so, nicht nur bei uns. Na, und was die Schreibe angeht, gab es bei uns in Wahrheit keinen besseren als den Thomas. Das hat die Reporter-Schnösel ganz schön gewurmt.« Einen Augenblick lang strahlte Antje Winkler; die Frage, wem ihre Sympathien in dieser Angelegenheit gegolten hatten, erübrigte sich. Schnell aber wurde das Gesicht der jungen Frau wieder ernst. »Armer Thomas.«

      Neid auf fähigere Kollegen – so etwas gab es wohl in jedem Betrieb, auch bei der Polizei. Das alleine aber war noch kein Mordmotiv. »Standen in der Redaktion eigentlich personelle Veränderungen an? Oder hat es kürzlich welche gegeben? Versetzungen, Beförderungen vielleicht?«

      Antje Winkler kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Offenbar hatte sie begriffen, worauf Stahnke hinaus wollte. »Thomas hatte keinerlei Karriere-Ambitionen. Er wollte kein Chef werden. Wollte genau den Job machen, den er machte. Beneidenswert.« Wieder verdüsterte sich ihr Blick.

      Stahnke schaute Kramer an; der schaute ausdruckslos zurück. Einen pflegeleichteren Kollegen als Thomas Kretschmer schien es niemals irgendwo gegeben zu haben. Jedenfalls, soweit es die Redaktion, den eigenen Betrieb betraf. Nach außen dagegen, in seinen Artikeln, war Kretschmer durchaus scharf und spitz gewesen – ganz so wie die Messerklinge, die sein Leben vorzeitig beendet hatte. Wenn es also Feinde gab, so konnten sie nur von außen kommen. Aber genau das, nämlich von außen kommen, konnte der Täter ganz offensichtlich nicht. Wegen der verschlossenen Tür. Da biss sich doch die Katze in den Schwanz.

      Eine laute Stimme ertönte plötzlich, ohne dass irgendjemand zu sehen gewesen wäre. Der Redaktionsflur war lang, so lang wie das gesamte Zeitungsgebäude, nur unterbrochen vom Treppenhaus, das ihn in der Mitte teilte. Die Glastüren standen offen. Die schallende Männerstimme musste ganz vom anderen Ende herübertönen. Ein beachtliches Organ.

      Antje Winkler verdrehte die Augen. »Der schon wieder!«, stöhnte sie. »Sonst kommt der Proll doch nie so früh. Hat wohl gerochen, dass es hier etwas zu schnüffeln und zu tratschen gibt.«

      »Proll?« Kramer zückte seinen Stift.

      »Eigentlich heißt er Prollwitz«, sagte Antje Winkler. »Aber wir nennen ihn alle nur den Proll. Ein nerviger Typ. Genau das Gegenteil von Thomas Kretschmer. Wenn der hier …« Erschrocken schlug sie sich die Hände vor den Mund.

      »Wenn der hier was?«, hakte Stahnke nach. »Nur keine falsche Scheu, erzählen Sie.«

      Die Rotblonde ließ sich nicht lange bitten, viel zu groß schien der Mitteilungsdrang zu sein. »Na ja, also wenn der Proll hier liegen würde mit einem Messer in der Brust, dann hätte ich mich nicht gewundert. Keiner hätte das. Jeder, der mit dem zusammenarbeiten muss, bekommt früher oder später automatisch Mordgedanken.«

      »Was ist denn so schlimm an dem?«, fragte Stahnke. »Laut ist er, na schön, aber sind andere das nicht auch?«

      »Wenn’s nur das wäre! Der Proll ist nicht nur laut, der ist vor allem aufdringlich. Der quatscht einem die Ohren ab, ganz egal, ob man vielleicht gerade etwas Dringendes zu erledigen hat oder nicht, und bläst einem dabei seine Cappuccino-Fahne ins Gesicht. Das Zeug holt er sich nämlich andauernd aus dem Automaten hier. Und er zieht natürlich am liebsten über Kollegen her. Den wird man nicht los, wenn der sich einmal an einem festgelabert hat, da kann man so deutlich werden wie man will, der reagiert einfach nicht. Thomas hatte besonders unter ihm zu leiden, er braucht halt seine Konzentration, wenn er schreibt. Ein oder zwei Mal hat er ihn regelrecht rausgeschmissen.«

      »Ach«, unterbrach Stahnke. »Dann kann es also sein, dass der Prollwitz einen Groll gegen Kretschmer hegte?«

      Antje Winkler lachte: »Ach was, so etwas merkt der doch überhaupt nicht! Wenn Sie mal nach dem Gegenteil von Sensibilität suchen, dann nehmen Sie den Proll. Der Mann ist gegen alles immun. Der hat Hornhaut auf der Seele. Wenn er überhaupt eine Seele hat.«

      Die schnarrende Männerstimme war während des Gesprächs keinen Augenblick lang verstummt. Jetzt wurde sie plötzlich lauter Ein kleiner, bulliger Mann war auf dem Gang erschienen und näherte sich mit schnellen Schritten, den Kopf mit der Halbglatze vorgereckt. Dass er seinen Gesprächspartner hatte zurücklassen müssen, schien ihm nichts auszumachen, wohl weil ihn am anderen Ende des Flurs ja neue erwarteten. Die Worte, die der Mann immer noch pausenlos ausstieß, ergaben für Stahnke keinen Sinn; offenbar waren es Fetzen der just abgebrochenen Unterhaltung, die er unermüdlich wiederholte, um die Pause bis zur nächsten zu überbrücken. Sein Blick war ebenso unstet wie sein Gang übertrieben fest; Stahnke bereitete sich auf einen unangenehmen Wortwechsel vor.

      Unmittelbar vor ihm aber schlug der bullige Mann plötzlich einen Haken, umkurvte auch Kramer und stürmte auf die Teeküche zu. Ehe die beiden Polizisten reagieren konnten, hatte Prollwitz die Tür erreicht und ließ sie mit einem wuchtigen Stoß seiner flachen Hand aufplatzen. Das Türblatt verfehlte die Leiche nur knapp und schlug krachend an die Innenwand.

      »Sind Sie wahnsinnig«, brüllte Stahnke. »Verschwinden Sie hier, das ist ein Tatort!«

      Kramer sagte gar nichts, sondern machte einen schnellen Schritt, packte den vorwitzigen Burschen am Kragen und riss ihn zurück. Eine Behandlung, die Prollwitz weiter nichts auszumachen schien. Er hatte gesehen, was er sehen wollte, und machte sich bereits auf den Rückweg. »He, Becker, du Lappen«, brüllte er durch den Korridor, »das ist dein Messer, das der Kretschmer da in der Brust hat! Das Ding, das du Weihnachten hier vergessen hast, damals, als wir deinen Stollen gegessen haben. War ja staubtrocken, das Zeug!« Mit jedem Schritt schallte seine Stimme ein bisschen leiser, und Stahnke stellte fest, dass er dafür dankbar war.

      »Zum Glück sind ja nicht alle so«, nahm Antje Winkler ihren Berufsstand in Schutz.

      Stahnke ging darauf nicht weiter ein, hatte die Worte tatsächlich gar nicht wahrgenommen. »Sagen Sie, welchen Job macht denn der Prollwitz hier?«, fragte er die Lokalredakteurin. Kramer, der die Teeküchentür wieder zugezogen hatte, horchte auf; in der Stimme seines Chefs schwang wieder einmal dieser gewisse Ton mit.

      »Umbruchredakteur«, sagte die Rotblonde. »Er kontrolliert jede redaktionelle Seite, die von der Abteilung Druckvorstufe verarbeitet worden ist, ehe die eigentliche Druckplatte angefertigt wird. Darum fängt er gewöhnlich auch erst mittags an, weil er ja jeden Abend bis 23 Uhr bleiben muss. Gott sei Dank, so muss man ihn wenigstens nicht den ganzen Tag lang ertragen.«

      »Dann müsste er ja gestern Abend zur Tatzeit hier im Haus gewesen sein«, stellte Kramer fest. Typisch für ihn, dass ihn selbst solch eine Nachricht nicht aus der Fassung brachte.

      »Tatzeit? Ach, Sie meinen …« Antje Winkler stutzte und begriff. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, also wirklich nicht. So blöd wie der ist, aber einen Mord – nee. Jedenfalls nicht, wenn dabei nichts für ihn zu holen ist. Und da sehe ich nichts.«

      Stahnke nickte zerstreut, schien mit seinen Gedanken schon wieder woanders zu sein. »Noch einmal zu Kretschmer. Schreiben konnte er ja, da sind wir uns einig. Aber wie war er denn sonst so, ich meine, in den alltäglichen Dingen, wie hat er sich da angestellt? Ein patenter Mensch?«

      Antje Winkler lächelte; es sah nachsichtig aus. »Ach wissen Sie, der Thomas hat so viel Talent zum Schreiben mitbekommen, da war für andere Dinge wohl nichts mehr übrig. Der hat nicht einmal eine Flasche aufschrauben können, ohne sich zu bekleckern. Zwei linke Hände, sage ich nur. Total paddelig.