Raum war nur schwach beleuchtet, da er nach Norden hin lag und die späte Nachmittagssonne das winzige Fenster nicht erreichte, was dem Ganzen eine düstere, verhängnisvolle Atmosphäre verlieh. Die Kammer war niedrig, verrußt und schon von den wenigen Menschen, die sich in ihr befanden, überfüllt und eng. Zwischen diesen Wänden also, auf diesen wenigen Metern hatte sich das Leben Michael Thiels zugetragen und war es gewaltsam beendet worden. Die spärlichen Möbelstücke in der Kammer waren aus grobem Holz beschaffen; ja, die Wäschetruhe war lediglich aus Reisig und Ried hergestellt worden und weder Schrank noch Anrichte waren vorhanden. Eichendorff sah ein gewöhnliches, ärmliches Bedienstetenzimmer mit Bett, Truhe und einem Schemel, der zur Seite gefallen war, wahrscheinlich, weil sich Thiel auf ihn gestellt hatte, als er sich den Strick um den Hals legte.
Dieser war noch immer an der Decke befestigt und hing von dort wie ein Damoklesschwert herab, das Ende abgeschnitten von einem der Gutsbewohner, die den grausigen Fund gemacht hatten. Thiel selbst war auf dem Bett aufgebahrt worden, lag dort mit geschlossenen Augen, denn zumindest diese Ehre hatte man dem Toten erwiesen. Auch die Schlinge war entfernt worden und so konnte Eichendorff den bläulich-violetten Striemen über dem kräftigen Hals sehen. Das Gesicht jedoch wagte er nicht zu betrachten und so ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen, das ihm plötzlich widerlich vorkam und gleichzeitig so interessant, dass er am liebsten alles genau untersucht, die Truhe durchwühlt und in jeder Ecke nach Privatem gestöbert hätte. Eichendorff kam sich aufgrund dieses Gedankens schuldig vor, besonders als er Botfeld erblickte, der vor dem Toten niederkniete, sich bekreuzigte und seine Hand ergriff. Dies rührte Eichendorff so sehr, dass er nicht mehr umhinkam, dem Toten ins Gesicht zu sehen, und trotz des dämmerigen Halbdunkels erkannte er schon auf den ersten Blick die derben Umrisse der Wangen und des Kinnes wieder. Es war derselbe Mann, den er am frühen Nachmittag, vor wenigen Stunden erst, von seinem Zimmer aus beobachtet hatte, der so ungeduldig auf die Magd gewartet und sie dann im Zorn verlassen hatte. Eichendorff überkam ein Schauer. Dieser Mann war nun tot. Und Botfeld, dieser gepflegte, bedachte Botfeld, trauerte um den groben Mann, diesen jähzornigen plumpen Bauernsohn, der sich selbst erhängt und somit jeder Möglichkeit beraubt hatte, in den Himmel aufzusteigen.
Hinter sich hörte Eichendorff das Gemurmel von lateinischen Gebeten lauter werden und zwei hutzlige Nonnen betraten unbeirrt den Raum, als seien die anderen Anwesenden nicht vorhanden. Selbst den knienden Botfeld übergingen sie grußlos, und ohne ihre Gebete zu unterbrechen, die nun in einen frommen Singsang übergegangen waren, knieten auch sie nieder, Botfeld gegenüber, und hielten die Köpfe gesenkt, wodurch ihr Gesang zu einem baritonalen Murmeln wurde, das wie ein bedrohliches Summen die Luft zum Vibrieren zu bringen schien. Im Halbdunkel glaubte Eichendorff, anhand ihrer Tracht in ihnen Elisabethinen zu erkennen.
Nun betrat auch die Leichenwäscherin wieder den Raum, und da sich Botfeld inzwischen erhoben hatte, wagte sie sich an den Leichnam heran, gab einem der Umstehenden das Zeichen, frisches Wasser zu holen, und nahm ihre Arbeit auf. Botfeld sah dem beginnenden Treiben zu, wobei sein Blick auf dem Gesicht Thiels haftete und nur dann umherzuckte, wenn etwa die säubernde Hand der Wäscherin über die Stirn des Toten fuhr und so in das Blickfeld Botfelds geriet.
Eichendorff legte die Hand auf Botfelds Schulter, erst leicht, dann bestimmt, und zog ihn fort von dem Bett. Botfeld wendete sich von dem Anblick des Toten ab und ging wie betäubt an Eichendorff vorüber, wobei er ihm etwas zusteckte. In der Tür stieß er mit Undine zusammen, die ihm in blinder Eile geradezu in die Arme fiel. Eichendorff, der ihr Gesicht nur kurz zu sehen bekam, bevor sie sich schluchzend an die Brust ihres Bruders presste, stellte fest, dass auch ihr der Tod Thiels zu Herzen ging. Ihr temperamentvolles Wesen, das ihm schon bei ihrem ersten Treffen im Theater eine tief gefühlte Sensibilität offenbart hatte, war durch das Ereignis aufgewühlt und entlud sich in überspannten Tränen, die der sonst so zurückgenommenen Frau nun ungehemmt über die Wangen liefen. Eine Frau, scheinbar ihre Zofe, war ihr gefolgt und wollte sie an sich nehmen, doch Botfeld wies sie bestimmt zurück und führte seine Schwester selbst aus dem Raum, über den Wirtschaftshof und schließlich in das Herrenhaus.
Eichendorff blieb vor der Kammer zurück, aus der monoton das Gemurmel der Nonnen drang. Erst jetzt besah er sich den Gegenstand genauer, den ihm Botfeld wie nebenbei zugesteckt und den er für einen Moment völlig vergessen hatte. Es handelte sich um einen Brief, leicht lädiert an den Rändern, der von einem dünnen Lederband zusammengehalten wurde. Eichendorff öffnete es sorgsam und las den kurzen Satz, der auf dem einfachen Papier vermerkt worden war: »Aus Liebe geh’ ich hin.« Der Schriftzug verlief über die Mitte des Blattes, eine gewöhnliche, unscheinbare Handschrift, die jedoch trotzdem die schrulligen Eigenarten pedantischer Dorfschullehrer erkennen ließ, denn der Konsonant »s« war seltsam schräg verzogen und zusammen mit den durch ungeübten Gebrauch von Gänsefederkielen leicht verwischten Wörtern ergab sich das schludrige Geschreibsel der unbeholfenen Hand Thiels.
VII.
Eichendorff zog seine Pfeife in Gedanken versunken aus der Tasche, steckt sie jedoch gleich wieder ein, als ihm die Umstehenden bewusst wurden, die sich aus Anteilnahme, Trauer, aber auch einfacher Neugier in und vor der Kammer geschart hatten. Zwischen den Gaffenden schoben sich einzelne Frauen hindurch, die verschiedenste Gegenstände in den Raum trugen, ohne dass Eichendorff erkennen konnte, ob ihr Eifer einer strebsamen Ordnungsliebe oder dem tiefreligiösen Aberglauben entsprang, der in ländlichen Gegenden stark verbreitet war und vor dem auch Eichendorff nicht ganz gefeit war. Trotzdem überkam ihn eine so große Wissbegier, dass er sich entschloss, aus der merkwürdig angespannten Stimmung heraus, die ihn erfüllte, seit ihn Botfeld verlassen hatte, die Kammer Thiels erneut zu betreten.
Inzwischen war der Tischler erneut eingetroffen und hatte zusammen mit einem Gesellen den Leichnam Thiels auf eine schmale Bahre gehievt, auf die er mit dünnen Tüchern fixiert worden war. Die Leichenwäscherin hatte ihre Arbeit getan und bekreuzigte sich nun flüchtig, um sich sogleich wieder ihrer Utensilien anzunehmen und den Raum zu verlassen. Die Nonnen hatten sich erhoben, ohne ihr Gemurmel zu unterbrechen, und während eine von ihnen dem durch die Menge getragenen Thiel folgte, spritzte die andere einige Tropfen Weihwasser auf alle Wände des Raumes, wobei sie ruckartige Bewegungen aus dem Handgelenk heraus vollführte, die Eichendorff all die Geringschätzigkeit erahnen ließ, welche die Nonne in diesem Moment erfüllte.
Nachdem auch sie den Raum verlassen hatte, nicht ohne Eichendorff wortlos zuzunicken, lichtete sich die Gruppe auf der Galerie, bis nur noch vereinzelte scheue Blicke in die ehemalige Kammer des Erhängten geworfen wurden. Lediglich ein Knecht war in dem Raum verblieben, um den Holzboden und die blanken Wände mit einer Salzlauge auszufegen, die er einem hölzernen Eimer entnahm.
»Warum machst du das?«, fragte Eichendorff interessiert.
Der Mann sah nur kurz auf, dann fegte er erneut einen kräftigen Schwall Salzbrühe über die Bretter. »So will es der Brauch. Bei Seuchen wird alles ausgeräuchert und gescheuert. Bei dem, was sich hier zugetragen hat, muss ebenfalls gescheuert werden.«
Eichendorff trat näher an den Mann heran. »Passiert so etwas hier des Öfteren?«
Nun blickte ihn der Mann erstaunt an und schüttelte vehement den Kopf. »Aber nein, Herr, der letzte Vorfall dieser Art liegt um Jahre zurück. Ich kann mich selbst kaum erinnern, es war einer der Bauern draußen am Floßteich, glaube ich. Seine Seele finde Erbarmen.«
»Und das Ewige Licht leuchte ihm«, schloss sich Eichendorff beiläufig dem Gebet an. Die Faszination für das Ungeheuerliche hatte ihn gepackt, vielleicht, weil er sich selbst nicht vorstellen konnte, was einen Menschen zu solch einer Tat treiben könnte. Vielleicht aber auch, weil ihm eine derart große Empfindung wie die Liebe Thiels, die ihn in den Tod getrieben hatte, fremd war. Den putzenden Mann, der sich nun auf die Knie niedergelassen hatte, missachtend, wendete sich Eichendorff der Wäschetruhe zu, dem seiner Meinung nach einzigen Privatstück Thiels. Als er ihren geflochtenen Deckel anhob, fand er darin Kleidungsstücke jeder Art und derart ungelenk zusammengelegt, wie es den ruppigen Händen Thiels nicht anders möglich war. Trotz dieser offensichtlich ohne weibliche Hilfe besorgten Wäsche konnte Eichendorff zumindest den ernsthaften Versuch erkennen, den Inhalt der Truhe ordentlich und sauber zu halten. Dieser war jedoch ohne Belang. Außer einigen getrockneten Blumen, einem Messer und einem Lederbeutel