Geleitwort
Dieser Band gibt erstmals den Mädchen und Frauen eine Stimme, die in der Zeit zwischen 1961 und 1982 in der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) zwangsweise medizinisch behandelt wurden. – Ihnen wurde Unrecht angetan.
Nun wird das Ver-Schweigen beendet, weil einige der Frauen über die entwürdigenden, entehrenden und schädigenden Behandlungen und Misshandlungen in dieser Poliklinik im Herzen Halles berichten, die beunruhigende Fragen hinsichtlich des Gesundheitswesens der DDR aufwerfen.
Was hatten Mitarbeiter der Staatssicherheit regelmäßig in der Poliklinik zu tun? Wieso konnten Patientinnen zu Arbeiten ohne Entlohnung im Krankenhaus herangezogen werden? Wie konnte es sein, dass sie Hilfeleistung bei der gynäkologischen Untersuchung anderer leisteten? Weshalb mussten sie eine Schweigeverpflichtung unterschreiben? Wie ist die Installation von Stubenältesten zu begreifen, die bewirkte, dass Eingewiesene nicht nur die Gewalt von Arzt und Schwestern, sondern auch den Terror der Mitpatientinnen fürchten mussten? Wie konnte es geschehen, dass Pateintinnen zwangsweise tätowiert oder geschoren aus der Klinik entlassen wurden? Wie äußerten sich und was bewirkten Widerspruch und Widerstand? Wurden hier Anteile von Strafvollzug, von Praktiken des Jugendwerkhofsystems, von polizeilicher sowie geheimdienstlicher Verfolgung und der politischen Repression zusammengefügt? Hatte das Ganze System, oder herrschte hier „einfach“ die Willkür eines besonders tyrannischen Arztes?
Den Frauen, die nun zu Wort kommen, ist in der geschlossenen Venerologischen Station in Halle bitteres und leidvolles Unrecht angetan worden. Sie wurden unter dem Vorwand medizinischer Untersuchung und Behandlung verletzt. Sie wurden im Rahmen der Gesundheitspolitik der DDR und mit dem Ziel der „sozialistischen Erziehung“ menschenunwürdig behandelt.
Zur Wiederherstellung ihrer Würde gehört zunächst die gewissenhafte wissenschaftliche Aufarbeitung des Geschehens. Die Verfasser haben sorgfältig die Rahmenbedingungen des Umgangs mit Geschlechtskrankheiten in der SBZ/DDR untersucht, die Sachlage in Halle bis hin zu den Bauakten detailliert geprüft. Sie haben mit Betroffenen, mit Pflegepersonal, Famulanten und Medizinern gesprochen. Sie haben durch den Blick in die Geschichte auch einiger anderer Einrichtungen sowie durch Gespräche mit Zeitzeugen, die aus verschiedenen Blickwinkeln berichteten, eine belastbare Vergleichsperspektive hergestellt.
Durch die wissenschaftliche Aufarbeitung können nun die betroffenen Frauen ihren Erinnerungen trauen, sie prüfen, vielleicht neu einordnen. Ähnliches könnte für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bzw. Famulanten gelten, die die Erfahrungen auf der Station teilweise fassungslos machten.
Auch zur Würdigung und zur Wiederherstellung der Integrität und Ehre der betroffenen Frauen dient diese Veröffentlichung. Das Geschehene kann dadurch nicht rückgängig gemacht werden. Ich hoffe aber sehr, dass es in einem neuen Licht betrachtet werden kann, weil mit einer gründlichen wissenschaftlichen Untersuchung die Ereignisse aufgearbeitet werden.
Bis heute haben die Frauen keine Wiedergutmachung erfahren. Mit dieser Studie soll ein erster Beitrag dazu geleistet werden. Ein weiterer Teil der Wiedergutmachung ist die aufrichtige Anteilnahme der Öffentlichkeit am Schicksal der betroffenen Frauen.
Ich danke Heidi Bohley vom Zeit-Geschichte(n) e. V., die den Frauen als Erste Glauben geschenkt hat, und meinem Stellvertreter Christoph Koch, der mit Hilfe der Mitteldeutschen Zeitung und des Mitteldeutschen Rundfunks nach weiteren betroffenen Frauen suchte und die ersten Gespräche mit ihnen führte. Ich danke Professor Dr. Florian Steger und Dr. Maximilian Schochow vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die den Frauen ihre Aufmerksamkeit und ihr Mitgefühl geschenkt und mit wissenschaftlicher Genauigkeit Fragen gestellt und Antworten gefunden haben.
Birgit Neumann-Becker
Landesbeauftragte für die Unterlagen
der Staatssicherheit der ehemaligen DDR
Vorwort
„In einem Zimmer muss ich mich entkleiden, vollständig. Man reicht mir graue Einheitskleidung, die ziehe ich an. Dann werde ich abgeführt, einen langen Gang entlang. An seinem Ende ein großes Gitter. Es öffnet sich für mich. Ohne ein Wort werde ich durch die Öffnung geschoben. Mit einem ‚Klack‘ fällt das Gitter hinter mir zu. Innen. Aus drei Räumen kommen mir Frauen entgegen. Alle in dieser Kleidung, die auch ich jetzt trage. ‚Wo bin ich hier?‘, höre ich mich fragen. Die Frauen lachen: ‚In der Tripperburg – herzlich willkommen!‘“1 Unter dem Pseudonym Juli Sommermond veröffentlichte im Jahr 2013 eine ehemalige Patientin der geschlossenen Venerologischen Station im Krankenhaus Berlin Buch ihre Autobiographie. Darin schildert sie, wie sie als 14-jähriges Mädchen auf die Station gebracht wurde und berichtet von den erschütternden Ereignissen in ihrem jungen Leben auf der Station.
Nicht nur Juli Sommermond, sondern viele weitere Patientinnen haben inzwischen ihr jahrelanges, mit Ängsten und Scham besetztes Schweigen gebrochen. Patientinnen von der geschlossenen Venerologischen Station in Leipzig Thonberg oder von der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) berichteten gegenüber Mitarbeitern der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Sachsen-Anhalt und gegenüber den öffentlichrechtlichen Medien über schockierende Ereignisse auf den geschlossenen Venerologischen Stationen.2 Die Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) und die Berichte der Patientinnen, die zwischen dem 12. und 72. Lebensjahr zwangsweise zur Behandlung von Geschlechtskrankheiten auf die geschlossene Venerologische Station der Poliklinik Mitte gebracht wurden, sind Gegenstand der vorliegenden Darstellung.
Für die Rekonstruktion der Geschichte der geschlossenen Venerologischen Station der Poliklinik Mitte in Halle (Saale) haben wir neben umfangreichen Archivrecherchen, vor allem Interviews mit ehemaligen Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station geführt. Gleichzeitig haben wir mit Ärzten und Krankenschwestern gesprochen, die auf der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte tätig waren. Aber auch Zeitzeugen aus Halle (Saale), die als ambulante Patienten der Poliklinik Mitte den Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Station begegnet sind, konnten wir für Interviews gewinnen. Wir haben uns umfänglich bemüht, alle Akteure anzusprechen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Leider wurde von Seiten der Gruppe der Ärzte, selbst auf unser Zugehen, häufig der Kontakt verweigert. Alle, die mit uns reden wollten, kommen in diesem Buch zu Wort. Die Berichte der Patientinnen, Ärzte, Krankenschwestern und Zeitzeugen stehen in großen Teilen für sich. Deshalb haben wir uns entschieden, viele Zitate aus den anonymisierten Interviews abzudrucken.
Die hier präsentierten Ergebnisse reflektieren den aktuellen Stand unserer Forschungsarbeit. Unsere Recherchen haben gezeigt, dass in weiteren Bezirken der DDR geschlossene Venerologische Stationen eingerichtet wurden. Auch haben sich Patientinnen bei uns gemeldet, die in Berlin oder Leipzig die Zwangseinweisung auf eine geschlossene Venerologische Station erlebt haben. Die wissenschaftliche Arbeit an diesem Kapitel der DDR-Geschichte steht also noch am Anfang. Und doch lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt sagen, dass die Verhältnisse in Halle (Saale) eine außerordentliche Situation darstellten, die sich nicht zuletzt durch die Leitung der Station bedingt. Wir haben weitere Forschung geplant, welche die DDR-weite Perspektive vergleichend in den Blick nimmt. Dann können unsere gegenwärtig gesammelten und aufbereiteten Aussagen mit neuen Erkenntnissen in Kontext gesetzt werden. Wir möchten schon jetzt alle einladen, uns bei der weiteren Arbeit zu unterstützen und uns neue Informationen bzw. persönliche Erfahrungen mitzuteilen.
Die bisherige Arbeit wäre ohne die ehemaligen Patientinnen der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale), in Berlin und in Leipzig, welche sich an uns gewendet und mit uns gesprochen haben, nicht möglich gewesen. Die Patientinnen