Florian Steger

Disziplinierung durch Medizin


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und Fürsorgeamtes, Bauakten sowie Akten des Stadtarchitekten), dem Evangelischen Diakoniewerk Halle (Saale) (Akten zur Hautklinik), dem Bundesarchiv Berlin (Bestand DQ1: Gesundheitsministerium der DDR), der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (LStU) Sachsen-Anhalt und der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) (Personalbogen) verglichen und hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit geprüft.28 Anschließend wurden die verschiedenen Quellen historisch-kritisch analysiert und für die Rekonstruktion der Ereignisse auf der geschlossenen Venerologischen Station in der Poliklinik Mitte zugrunde gelegt.

      Darüber hinaus wurden – mithilfe der etablierten Methode der Oral History – narrative Interviews erstellt und qualitativ ausgewertet.29 Narrative Interviews können einen direkten Zugang zu individuellen Erfahrungen vermitteln, wie beispielsweise Babett Bauer in ihrer Arbeit zur individuellen Erfahrung in der DDR30 oder Kornelia Beer und Georg Weißflog in ihrem Beitrag über gesundheitliche Folgen nach politischer Haft in der DDR31 gezeigt haben. Die Interviews wurden mit Patientinnen, Ärzten (Famulanten und Praktikanten), Pflegepersonal (Krankenschwestern) und Verwaltungsangestellten (Buchhaltung und Sachbearbeitung) der geschlossenen Venerologischen Station bzw. der Poliklinik Mitte sowie mit Transportpolizisten und Zeitzeugen aus Halle (Saale) durchgeführt. Schließlich wurden halbstrukturierte Fragebögen an Patientinnen, Pflegepersonal (Krankenschwestern) sowie Ärzte (Famulanten und Praktikanten) der geschlossenen Venerologischen Station bzw. der Poliklinik Mitte verschickt, die nicht mehr in Halle (Saale) wohnen. Die anonymisierten Interviews und Fragebögen wurden transkribiert und anschließend qualitativ anhand der oben aufgeworfenen Fragen ausgewertet.

      Schließlich wurde eine Analyse der Quellen einerseits und der narrativen Interviews andererseits durchgeführt, um die Ereignisse auf der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) zu rekonstruieren. Dabei ermöglichte die kritische Analyse der Quellen die notwendige Kontextualisierung der geäußerten narrativen Erfahrungen in den Interviews. Gleichzeitig bilden die Aussagen aus den Interviews ein Korrektiv zu den schriftlichen Quellen. Die Synthese der beiden qualitativen Analysen ermöglichte die Rekonstruktion der Ereignisse auf der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale) in einer bisher noch nicht erfolgten Weise und lässt eine weitere Annäherung an die Geschichte der Medizin in der DDR zu. Alle Namen der Patientinnen, des medizinisch-pflegerischen Personals und der Zeitzeugen wurden anonymisiert und abgekürzt.

2 Organisatorischer, institutioneller und rechtlicher Hintergrund der geschlossenen Venerologischen Station in Halle (Saale)

      Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden von verschiedenen Ämtern der Stadt Halle (Saale) zwei Probleme bei der Verwaltung von Geschlechtskranken beschrieben: Zum einen die Betreuung und Unterbringung geschlechtskranker Personen und zum anderen der rasante Anstieg der Geschlechtskrankheiten im Allgemeinen. Vor allem die Kriminalpolizei thematisierte die Frage der Betreuung und Notwendigkeit der Unterbringung, wie unter anderem aus einer Anfrage vom 15. Oktober 1945 an den Oberbürgermeister bzw. das Jugend- und Fürsorge-Amt Halle (Saale) hervorgeht: „Es ist in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß die von der Polizei erfaßten weiblichen minderjährigen Herumtreiber nach Entlassung aus dem Gefängnis, dem Gesundheitsamt überstellt, beim Vorliegen einer Geschlechtskrankheit dem Polizeigefängnis von dem Verw. Sekretär U. M. (Abk., d. A.) wieder zugeführt wurden mit der Begründung, daß keine Möglichkeit einer stationären Behandlung in einem Krankenhaus gegeben sei. Ich bitte für die Unterbringungsmöglichkeit Sorge zu tragen, da die rechtlichen Voraussetzungen für eine Wiedereinweisung ins Polizeigefängnis in den erwähnten Fällen nicht gegeben sind.“32

      Das zweite Problem, der generelle Anstieg der geschlechtskranken Personen in Halle (Saale), wurde unter anderem vom Jugend- und Fürsorgeamt Halle (Saale) thematisiert. So heißt es in einem Vermerk vom 9. Februar 1946, dass sich die Folgen der letzten Kriegsjahre stark auf dem Gebiet der Gefährdeten-Fürsorge auswirken würden. „Die Statistik der Monate Juni – Nov. 1945 65 Fälle, im Vergleich zu den Zahlen vom 1. 12. 45 – 1. 2. 46 133 Fälle, entrollt ein trauriges Bild.“33 Besondere Aufmerksamkeit von Seiten des Jugend- und Fürsorgeamts galt jenen Frauen, bei denen der „Verdacht wechselnden Männerverkehrs und der Geschlechtskrankheit besteht (…). Nur diese schweren Fälle der Gefährdeten-Fürsorge werden statistisch erfasst“.34 Aus der Statistik geht eine Verdoppelung, in einigen Altersgruppen sogar eine Verdreifachung, der mit Geschlechtskrankheiten registrierten Personen hervor:35

1.6. – 30. 11. 1945 1. 12. 1945 – 31. 1. 1946
unter 16 Jahre 7 20
16 – 18 Jahre 17 32
19 – 21 Jahre 35 60
über 21 Jahre 6 21
Gesamt 65 133

      Tab. 1 Registrierte Personen mit Geschlechtskrankheiten nach Alter

      Von den 133 geschlechtskranken Personen waren 61 aus Halle (Saale) und 72 Personen von auswärts. Damit wurde ein weiteres Problem für die Verwaltung von Halle (Saale) sichtbar: die Flüchtlinge. „Der Flüchtlingsstrom, der sich auch über unsere Stadt ergossen hat, ließ viele alleinstehende Frauen und Jugendliche zurück, die oft obdachlos umherirren und damit der Verwahrlosung preisgegeben sind. Beängstigend ist die Zahl der Geschlechtskrankheiten, darunter leider auch der Jugendlichen. Es sind verschiedentlich Kranke von 13 und 14 Jahren dabei“,36 so der Vermerk des Jugend- und Fürsorgeamts vom 9. Februar 1946.

      Für die Betreuung und medizinische Versorgung der geschlechtskranken Mädchen und Frauen gab es im Februar 1946 mehrere Einrichtungen. Zum einen war bereits Ende November 1945 eine Station für geschlechtskranke Frauen in der Christian-Thomasius-Schule in Halle (Saale) eingerichtet worden.37 Hier waren im Februar 1946 über 100 Kranke aufgenommen worden. Zum anderen „waren die geschlechtskranken Frauen in den Borsdofer Anstalten bei Leipzig untergebracht“.38 Daneben wurde die „Betreuung gefährdeter Mädchen (…), sofern es sich um ortsansässige handelt, von den Familienfürsorgerinnen mit durchgeführt. Im Übrigen von der Spezialabteilung für pflegeamtliche Arbeit, die zugleich auch die im Krankenhaus befindlichen geschlechtskranken Mädchen befürsorgt“.39 Schließlich konnten geschlechtskranke Frauen und Kinder in der „Hautklinik betreut“40 werden. Dennoch reichten die existierenden Betreuungs- und Versorgungsstrukturen nicht aus, um die rasant steigende Anzahl von Geschlechtskranken zu behandeln. Die Kapazitäten in der Christian-Thomasius-Schule waren fast vollständig ausgeschöpft. Gleichzeitig musste das Jugend- und Fürsorgeamt feststellten, dass durch „die Reiseschwierigkeiten und die starke Zunahme der Geschlechtskrankheiten (…) die Borsdorfer Anstalten nicht weiter belegt werden“41 konnten.

      Was mit den Geschlechtskranken aus Halle (Saale) und den geschlechtskranken Flüchtlingen geschehen sollte und wie sie künftig untergebracht bzw. medizinisch versorgt werden sollten, diskutierten unter anderem das Kriminalamt,