Aufgaben der Ambulatorien für Geschlechtskrankheiten (Plakat um 1948)
Eine besondere Stellung bei der Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten nahm der SMAD-Befehl Nr. 273 vom 11. Dezember 1947 ein. Mit diesem SMAD-Befehl wurden zum einen die deutschen Bestimmungen des Reichsgesetzes zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten von 1927 aufgehoben.108 Zum anderen wurden Maßnahmen angeordnet, die einen flächendeckenden Aufbau von Einrichtungen zur Vorbeugung und Behandlung von Geschlechtskrankheiten, die Einführung von Landes-, Bezirks- und Kreisvenerologen, die Bildung von Sonderabteilungen an Gesundheitsämtern, den Aufbau eines Meldesystems und Berichtswesens für Geschlechtskrankheiten sowie die Durchführung von Reihenuntersuchungen u. a. bei Beschäftigten in der Lebensmittelindustrie beinhalteten. Darüber hinaus wurden die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Isolierung von Patienten mit infektiösen Formen von Geschlechtskrankheiten, die Pflicht des Erkrankten sich behandeln zu lassen und die Festlegung vielfältiger Bestrafungsvorschriften mit dem SMAD-Befehl Nr. 273 geregelt.109 So sah beispielsweise der Paragraph 25 vor: „Mit Gefängnis bis zu einem Jahr und Geldstrafe oder einer dieser Strafen wird bestraft, wenn die betreffende Tat keine schwerere Strafe verdient: wer ein geschlechtskrankes Kinde in Pflege gibt, obwohl er weiß, oder nach den Umständen vermutet, daß es krank ist, und die Personen, die ein solches Kind zur Erziehung übernehmen, auf die Krankheit dieses Kindes nicht vorher aufmerksam gemacht hat.“110 Schließlich beinhaltete der SMAD-Befehl Nr. 273 Bestimmungen zur Eindämmung der Prostitution, Regelungen zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen ohne Lebensunterhalt, Anordnungen zur Errichtung von Fürsorgeheimen und „Arbeitssanitätskolonien“, in denen „Insassen“ Arbeitsschulungen erhielten, Bestimmungen zu breit angelegten Aufklärungsmaßnahmen für die Bevölkerung der SBZ sowie zur Ausbildung von Venerologen und der Zuteilung äußerst knapper Medikamente.111 Die in Paragraph 23 festgelegten Maßnahmen bezogen sich beispielsweise auf die Prostitution: „Wenn jemand, der Geschlechtsverkehr mit verschiedenen treibt, auf Grund der §§ 4, 5 15 Abs. 3 oder § 22, verurteilt ist, kann das Gericht neben der Strafe auf Unterbringung in einem Arbeitshaus erkennen.“112 Die Maßnahmen, die infolge des SMAD-Befehls Nr. 273 in der SBZ eingeführt wurden, bedeuteten für die behandelnden Ärzte einerseits mehr Bürokratie und andererseits eine gewisse Handlungssicherheit durch die Vereinheitlichung der schematisch durchzuführenden Behandlungen.113
Erst Anfang der 1960er Jahre wurde der SMAD-Befehl Nr. 273 zur Bekämpfung von Geschlechtskranken durch die „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“114 der DDR-Regierung außer Kraft gesetzt.115 Diese „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ trat am 23. Februar 1961 in Kraft und regelte alle zu ergreifenden Maßnahmen bei Geschlechtskrankheiten detailliert. Mit der Ersetzung der strengen Bestimmungen des SMAD-Befehls Nr. 273 durch die neue Verordnung wurden einige der rigiden Bestimmungen des SMAD-Befehls Nr. 273 liberalisiert.116 Hintergrund hierfür war einerseits der medizinische Fortschritt – seit Mitte der 1950er Jahre konnte beispielsweise die Gonorrhoe durch den Einsatz von Penicillin innerhalb von wenigen Stunden behandelt werden.117 So finden sich ab 1947 diverse Schreiben an das Jugend- und Fürsorgeamt Halle (Saale), in denen um die Kostenübernahme für die Penicillinbehandlung von Geschlechtskranken gebeten wird.118 Diese Schreiben waren meist mit Namen der Patientinnen versehen und kamen aus den Einrichtungen, in denen die Geschlechtskranken betreut wurden. Andererseits waren die Infektionsraten gesunken, sodass die allgemeine Gefährdung der Bevölkerung nicht mehr als gravierend eingeschätzt wurde. Neben diesen beiden Tatsachen konnten seit Mitte der 1950er Jahre zwei Entwicklungen festgestellt werden: Mehr und mehr Ärzte stellten die Praxis der namentlichen Meldung von Infektionsquellen bei Geschlechtskrankheiten an die Gesundheitsämter infrage. Gleichzeitig diagnostizierten Ärzte häufig eine „eitrige Hauterkrankung“, welche nicht den Gesundheitsämtern gemeldet, aber ebenfalls mit Penicillin behandelt werden musste.119 Gründe hierfür waren die Verbesserung des Patient-Arzt-Verhältnis – Schutzbedürfnis der Patienten vor beruflicher Benachteiligung und Diffamierung – sowie die Bestechlichkeit einiger Ärzte.120
In Paragraph 2 der „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ wurde festgelegt, wer als geschlechtskrank galt und somit unter die Bestimmungen der Verordnung fiel: „Geschlechtskrankheiten entsprechend dieser Verordnung sind die übertragbare (infektiöse) Syphilis (Lues venerea), die akute und die chronische Form des Trippers (Gonorrhoe), der weiche Schanker (ulcus molle) und die Frühform der venerischen Lymphknotenentzündung (Lymphopathia venerea).“121 Diese Personen wurden jedoch nicht mehr namentlich an die Gesundheitsbehörden gemeldet, wie es der SMAD-Befehl Nr. 273 vorsah. Vielmehr wurde die namentliche durch eine chiffrierte Erfassung ersetzt. In Paragraph 17 zur Meldepflicht heißt es: „Ärzte, Zahnärzte und Hebammen haben innerhalb von 48 Stunden dem Rat des Kreises, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, a) Geschlechtskranke oder krankheitsverdächtige Personen, b) Personen, die Geschlechtskranke oder Krankheitsverdächtige angesteckt haben oder die von Geschlechtskranken oder Krankheitsverdächtigen angesteckt sein können (…) unter Deckbezeichnung ohne Namensnennung zu melden.“122 Die Chiffrierung setzte sich aus den Anfangsbuchstaben des Vor- und des Zunamens sowie der Angabe des Geschlechts und des Geburtsdatums zusammen. Die Angaben wurden von den Gesundheitsämtern für statistische Auswertungen verwendet.123
Dennoch waren die geschlechtskranken Personen bzw. Krankheitsverdächtigen in Paragraph 10 verpflichtet, bei der Identifizierung von Infektionsquellen mitzuarbeiten: „(1) Der behandelnde Arzt hat den Kranken oder Krankheitsverdächtigen eingehend zu befragen, wer ihn angesteckt haben und wer von ihm angesteckt sein kann. (2) Der Kranke oder Krankheitsverdächtige ist verpflichtet, die erforderlichen Auskünfte nach bestem Wissen zu geben und bei der Feststellung jeder Person, die ihn angesteckt haben oder die von ihm angesteckt sein kann, zumutbare Hilfe zu leisten.“124 Darüber hinaus regelte der Paragraph 9 ein Verbot des Geschlechtsverkehrs durch den behandelnden Arzt: „Der Geschlechtsverkehr und geschlechtsverkehrsähnliche Handlungen sind den Personen gemäß § 3 verboten. Der Geschlechtsverkehr darf erst nach Erklärung der ärztlichen Unbedenklichkeit wieder ausgeführt werden. Die Kenntnisnahme der Erklärung ist dem Arzt durch Unterschrift zu bestätigen.“125 Unter Personen gemäß Paragraph 3 wurden Kranke und Krankheitsverdächtige verstanden: „(1) Geschlechtskrank im Sinne der Verordnung sind Personen, die an einer im § 2 bezeichneten Geschlechtskrankheit leiden. (2) Krankheitsverdächtig sind Personen, a) bei denen sich Krankheitserscheinungen finden, die bei Geschlechtskrankheiten vorkommen, b) die nach den Umständen von einem Geschlechtskranken angesteckt sein oder einen anderen mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt haben können. (3) Als dringend krankheitsverdächtig gelten Personen, die a) wiederholt andere mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt haben, b) häufig wechselnden Geschlechtsverkehr haben oder häufig wechselnd geschlechtsverkehrsähnliche Handlungen mit anderen Personen vornehmen.“126
Eine besondere Einwilligungspflicht zur ärztlichen Behandlung wurde nur bei bestimmten ärztlichen Eingriffen gefordert, wie Paragraph 8 vorsieht: „(1) Die Entnahme von Rückenmarkflüssigkeit, die Cystoskopie, der Ureteren-Katheterismus sowie bestimmte andere vom Ministerium für Gesundheitswesen festzulegende Eingriffe bedürfen der vorherigen Zustimmung des Patienten. Bei Minderjährigen ist die Einwilligung des Sorgeberechtigten einzuholen. (2) Lehnen Geschlechtskranke oder Krankheitsverdächtige oder die Sorgeberechtigten Minderjähriger die Vornahme von Eingriffen im Sinne des Abs. 1 ab, so sind sie verpflichtet, dies dem untersuchenden oder behandelnden Arzt schriftlich zu bestätigen.“127 Weitere Möglichkeiten für die Patienten, in eine Behandlung einzuwilligen bzw. diese abzulehnen, gab es nicht.
Stattdessen kannte die „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten“ die zwangsweise Anordnung der Untersuchung und Behandlung bzw. die Einweisung in eine geschlossene Station. Diese Möglichkeiten wurden in Paragraph 20 geregelt und waren an ein mehrstufiges Verfahren gebunden. Erst am Ende dieses Verfahrens stand die Einweisung in eine geschlossene Abteilung: „(1) Der Rat des Kreises, Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, kann die Untersuchung oder Behandlung in einer bestimmten Behandlungsstelle oder den Nachweis der Untersuchung oder der Behandlung durch einen vom Patienten zu wählenden berechtigten Arzt befristet verlangen, wenn der Geschlechtskranke oder Krankheitsverdächtige a) eine erforderliche ärztliche Anweisung nicht befolgt, b) sich der ärztlichen Untersuchung, Behandlung oder Nachuntersuchung entzieht, c) entgegen dem Verbot Geschlechtsverkehr oder geschlechtsverkehrsähnliche Handlungen