Erich Loest

Swallow, mein wackerer Mustang


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lügen wir? Aus Angst, oder weil wir einem anderen nicht weh tun wollen? Kochta mustert Mays Stirn, die Augen, die hin und her huschen, die Lippen sind breitgezogen zu einem wartenden, argwöhnischen Lächeln. »Sie müssen sich nicht ängstigen, May, Ihre Karzerstrafe ist verbüßt. Aber warum haben Sie Ihre Kameraden so belogen?«

      »Ich habe eine Geschichte erzählt.«

      Kochta horcht auf. »Eine Legende? Aber eine Legende muß einen edlen Kern haben. Sie muß den bessern, der sie hört.«

      Das wartende, rückzugsbereite Lächeln ist aus Mays Gesicht gewichen. Kochta ist ein schwerknochiger Mann, nicht eigentlich alt, aber alles andere als jung, man meint, er habe vor zehn Jahren schon so ausgesehen und würde in zehn Jahren nicht anders wirken; immer habe er Anzüge getragen aus schwarzem Tuch, das an den Ellbogen seifig wurde und nie zerschliß. Von Kochta strahlt Ruhe aus, diesem Mann muß man nicht sofort antworten wie dem Vater, einem Polizisten, dem Zuchthausdirektor. »Nützen«, sagt May, »ich wollte so gern den Armen helfen. Ich wollte stehlen für sie.«

      »Du täuschst dich. Du hast für dich gestohlen. Beim Krämer Reimann in Wiederau.« Mays Augen flackern wieder, Spannung kehrt in die Mundwinkel zurück. Beim Krämer Reimann, das wissen beide, hat sich May als Geheimpolizist Leutnant von Wolframsdorf ausgegeben, der nach Falschgeld fahndet. Einen Zehntalerschein hat May als gefälscht und eine Uhr als gestohlen bezeichnet und beschlagnahmt, den Krämer hat er ins Gasthaus geführt, wo ihn angeblich Gendarmen abholen und nach Rochlitz eskortieren sollten. Durch eine Hintertür ist May mit Geld und Uhr verschwunden. »Du wolltest mehr scheinen, als du bist. Warst hoffärtig und eitel.«

      »Ich wollte …«

      »Was wolltest du?«

      »Ins Gebirge hinauf.« Wälder, kreisrunde Kessel mit Felsenrändern und einem schmalen Eingang, der von Gebüsch verwuchert war und den nur wenige Verschworene kannten. Im Kessel eine sanfte Wiese, ragende Bäume, ein Quell. Dort konnten Männer vom Pferd steigen und sich um ein Feuer scharen, Männer konnten ein Männergespräch führen. Keine Gefahr, daß Feinde lauschten.

      »Ins Gebirge?«

      May zieht den Blick hoch; Kochtas Augen warten. Da ist er wieder aufgetaucht, dieser Jugendtraum vom bewunderungswürdigen Bandit Bellini, gemischt mit der Phantasterei vom Ulanenoffizier in einem lothringischen Schloß inmitten von Wäldern.

      »Sie sind zerstreut, May. Dabei haben Sie’s gut, soweit man’s im Zuchthaus gut haben kann. Sie liegen in einer Einzelzelle, zur Arbeit sind Sie mit anderen zusammen. Die Arbeit ist leicht, nicht wahr? Sie sollten die Zeit bei uns nützen, um zu sich zu kommen. Ihre verworrenen Träume – schütteln Sie sie ab! Lesen Sie! Ich werde beim Direktor für sie bitten.«

      Eine Woche später hält May Bücher und Journale in den Händen. Von Mungo Park liest er, der den Lauf des Niger erforschen wollte, des unheimlichen schwarzen Flusses. Ein Besessener war Mungo Park, halb verrückt gewiß, als er auszog, arabisch verkleidet, sich mit Krankheiten herumschlug und den unsäglichen Strapazen eines Wüstenmarsches, der immerfort von Tod bedroht war und doch den Niger fand und ihm folgte über Stromschnellen hinunter, geschunden, ohne Aussicht auf Lohn. Hoffnung hat ihn getrieben, nicht auf Ruhm und Geld, sondern auf Lohn aus der eigenen Brust. In diesen Tagen sitzt May schweigsam über den Tabakblättern, die anderen fragen, hänseln, wollen Geschichten herauslocken. Aber er reitet und leidet mit Mungo Park, da kann er vergessen, was der Katechet Kochta zum Leben erweckt hat, die Dämonen Leutnant von Wolframsdorf und Plantagenbesitzer Albin Wadenbach und Doktor der Medizin Heilig. May fröstelt, während seine Hände Tabakblätter rollen, während er an der Seite von Park aus dem Uferdschungel des Niger zu einem Zeltlager der Tuaregs hinüberspäht. Sein Gefährte wird vom Fieber geschüttelt, Schweiß bricht ihm aus, während sie durch Sümpfe zurückschleichen. May rettet ihm das Leben, denn ein Krokodil schnellt aus dem Morast, will Mungo Park packen, aber May reißt die Büchse hoch und fällt das Tier durch einen Schuß ins Auge. Hätte er es um einen einzigen Zoll verfehlt, lebte Park nicht mehr.

      »He, May!«

      May fährt zusammen, die anderen lachen. Prott zählt May vor, wie wenig er in den letzten beiden Stunden geschafft habe. Wenn er krank sei, solle er sich zum Feldscher melden und die anderen nicht mit seinem Anteil belasten. Wenn er ihnen wenigstens eine Geschichte erzählte, eine dieser tollen Geschichten aus seinem Leben! May trinkt Wasser aus einem Krug und befeuchtet die Stirn. Es ist schwül, dumpfig im Arbeitsraum hinter den Mauern des Zuchthauses Waldheim. Er ist nicht in Afrika, nicht Mungo Park spricht mit ihm, er hat ihm nicht das Leben gerettet. Prott schmeißt einen frischen Ballen hin und befiehlt, die Blätter zu lösen, aber vorsichtig gefälligst! Und eine Geschichte, he! Wie ist das weitergegangen in Böhmen, hat er nun eine Räuberbande befehligt oder nicht?

      May will alle Kraft in die Hände zwingen, damit das Hirn Ruhe hat vor dem Teufel Prott und seinen Hilfsteufeln, vor den Dämonen Doktor Heilig und Leutnant von Wolframsdorf, vor dem Dämon, der ihn getrieben hat, eine geborgte Uhr als Eigentum auszugeben. Der Vater steht auf seinem Feldherrnhügel über dem Städtchen Ernstthal, ist dem Webstuhl entronnen, befehligt die sächsische Armee in der Schlacht von Kesselsdorf, und Karl steht frierend in der dünnen Jacke mit den längst zu kurzen Ärmeln und preßt einen Knüppel an die Schulter, der ein Gewehr sein soll. In einer Höhle verbirgt sich Karl, wärmt sich an einem spärlichen Feuer, weiß, daß ihn die Gendarmen suchen, ihn, den Dieb, der ein Räuberhauptmann werden will. Die Dämonen dringen in die Höhle ein, aus beiden Pistolen feuert May.

      Prott packt als erster zu, aber er kann den Fallenden nicht halten, die Hand rutscht von der Schulter ab, Mayschlägt halb an die Wand und halb auf den Ziegelboden. Prott zieht May hoch, ein anderer hilft, ihn zu stützen, ein dritter drückt ihm einen Becher an die Lippen. May schlägt die Augen halb auf und läßt die Lider sofort wieder sinken; da fassen sie ihn unter den Achseln und tragen ihn hinaus und den Gang entlang und legen ihn auf die Pritsche in seiner Zelle. Ein Wachtmeister beugt sich über den Züchtling 402, lauscht auf den gleichmäßigen Atem, fragt Prott: »Der arbeitet wohl nicht gern?«

      Das ist es nicht. Der ist bißchen verrückt. Manchmal bildet er sich ein, er wäre in Böhmen.« Prott hat nicht das ausgedrückt, was er meint, er sucht nach genaueren Worten und fügt hinzu: »Der kann seine Gedanken wegschicken. Die sind wirklich in Böhmen oder sonstwo, und dabei sitzt er hier und wickelt Zigarren.«

      Später steht Kochta vor Mays Pritsche und legt die Hand auf Mays Stirn. Fieber hat er, nicht beängstigend hoch, der Atem geht ruhig. Die Zigarrenmacher haben ihm berichtet, wie 402 stumm gesessen und auf keine Frage geantwortet hat. Fieber von der Seele her, vermutet Kochta, ob es das gibt? Es ist nur gut, daß niemand den Feldscher geholt hat, der hätte womöglich geglaubt, ein Wasserguß könne den vermeintlichen Simulanten am ehesten auf die Beine bringen. »May«, bittet Kochta, »nun hören Sie doch und sehen Sie mich an! Ich weiß, daß Sie mich hören! Sie flüchten vor mir, hab ich das verdient?«

      Lider zucken, May schlägt die Augen auf, nimmt ein Lächeln wahr, sieht Lippen sich bewegen. Kochta befiehlt nicht, schreit nicht, er setzt sich auf den Rand der Pritsche zum Züchtling 402 und legt wieder die Hand auf dessen Stirn und mutmaßt, das Fieber komme von der Seele, vom Herzen her, vom Gehirn vielleicht, die Gedanken fiebern, nicht eigentlich der Körper. »Vielleicht tun Ihnen die Bücher nicht gut? Sie sollten in der Bibel lesen, die großartigen Gleichnisse vom Herrn. Oder ruhige, schöne Gedichte. Was haben Sie gelesen?«

      »Über Mungo Park.«

      »Wer ist das?«

      May richtet sich halb auf, während er mit fahrigen Worten berichtet; der Katechet drückt ihn zurück und fragt: »Wem bringt er Gutes?«

      »Er bringt Wissen.«

      »Wissen über einen Fluß, über ein Stück der Erde. Der Herr will, daß der Mensch sich die Erde untertan mache. Deinem Park könnten Missionare folgen. Du hast recht, dich an ihm aufzurichten. Aber tust du es nicht auch wegen der Gefahr?« Die Gefahr, überlegt Kochta, vielleicht hat die Gefahr diesen Mann gelockt zu stehlen, vielleicht suchte er einen Feind, um sich selbst zu beweisen, daß er mutig war, und er sah keinen anderen Gegner als die Gendarmen? Ein Rätsel ist er, ein Mensch immerhin, der