über Deutschland, ein Heldenkaiser nach Jahrhunderten der Ohnmacht! Zwickergläser blitzen, Worte blitzen. Blut und Eisen. Die Zuchtrute der Vergeltung fiel auf Frankreich, geboren war der eherne Held an Wollen und Können, gefunden hatte er den edlen Fürsten, der ihn walten ließ, erwählt hatten beide das zum Äußersten entschlossene Volk als Gefolge. Deutschland wurde in den Sattel gesetzt, reiten wird es schon können! Eine Pause im Vortrag, ein neues Blatt: Tüchtig, was ist das? Tüchtig ist auch ehrenhaft, redlich. Der Direktor läßt seinen Blick über die Reihen der ihm Anvertrauten streifen, der Diebe, Betrüger, Räuber, Schänder und Totschläger. Tüchtig in diesem neuen deutschen Leben, das heißt arbeitsam, ordentlich. Heißt kaisertreu, soldatisch. Schande über die, die im Einigungskrieg fochten und dennoch in diesem Haus Strafe verbüßen müssen – der Geist von Sedan wurde schmählich vertan. Aber immer bleibt Hoffnung, wo Reue ist – der Direktor gleitet in die Niederungen der Routine hinab, das kennen seine Züchtlinge nicht anders an ihm, der Alte kann beginnen, wo immer er will, er endet doch in händeringender Mahnung. May hat Pathos in sich aufgesogen, am stärksten hat ihn dieses Bild beeindruckt: Ein gefangener Kaiser auf einem Schloß, Posten wachen vor den Portalen, einsam schreitet der Besiegte durch hallende Säle. Ein Kammerdiener meldet: Wieder eine Stadt durch den Feind erobert, wieder eine Festung gefallen. Reue, tätige Reue, diese Rede kennt er. Prott hat ihn wieder wegen mangelnder Arbeitsleistung angeschwärzt.
Mittags schwimmt Speck auf der Suppe. Abends schreibt May an einer neuen Geschichte: Ein Mann taucht im Gebirge auf mit geheimnisvollen Kenntnissen über vergangene und gegenwärtige Schurkereien. Beim Förster mietet er sich ein und führt ihm vor, wie er in Windeseile sein Aussehen verändern kann: Er reißt eine Perücke herunter, färbt sich in Sekundenschnelle das Gesicht, klebt einen Bart an, läßt ihn in der Tasche verschwinden. Er trägt einen Rock mit vier Ärmeln, den man wenden kann, rot ist er auf einer Seite, blau auf der anderen. Gebückt schleicht dieser Mann durchs Zimmer und schreitet gleich darauf kerzengerade. Dukaten streut er unter die Armen, Fleißigen, die so friedfertig sind. Allen Haß häuft May auf die, die seine Kindheit vergällt haben, die Mieteintreiber, Hausbesitzer, Fabrikanten, Zwischenhändler. Salz wird gebräunt, damit es den fauligen Geschmack der Kartoffeln überdecke. Vor Jahren hat er im Zuchthaus Zwickau über das Sonnenland Dschinnistan gelesen, der Gegenpol hieß Ardistan, die Hölle, das Schwarze. In jedem Menschen liegen Dschinnistan und Ardistan nebeneinander, man muß Dschinnistan wecken, ihm aufhelfen durch edle Schriften. Ein anderer Gedanke aus Zwickau wird lebendig: Da ein Häftling für eine Woche nur ein Buch bekommt, das dann für viele Stunden ausreichen muß, sollte es lediglich vielseitenstarke Bücher geben. Und am Ende weiß der Leser: Da liegt Dschinnistan, ich muß es erringen, am anderen Pol dämmert Ardistan, ich muß es bekämpfen in mir und außerhalb von mir. Ein heiliges Lebensziel, sinnt er am nächsten Morgen, während seine Hände wie von selbst Wickel heranziehen und in die Decker schlagen, den Kleisterpinsel fassen. Ein Schwindelgefühl packt ihn, er zwingt sich hoch und drückt das Gesicht an die Luftklappe. Über dem Steilhang der Zschopau wölben sich Baumwipfel. In acht Monaten, weiß May, am zweiten Mai 1874 bin ich frei!
Nachts quälen ihn Erinnerungen. Als Kind war er linkischer, schwächer als seine Alterskameraden. Sie nahmen ihn nicht mit, wenn sie in den Wald zogen, um Gendarm und Räuber zu spielen; wenn er ihnen nachlief, bewarfen sie ihn mit Holz und Dreck. Prügel in der Schule, Prügel vom Vater, ein Bauer prügelte ihn vom Kartoffelfeld. Diese bittere Stunde: Ein fast siebzigjähriger Bauer packte ihn, den Zwanzigjährigen, in einer böhmischen Wirtsstube an der Jacke und schob ihn, trug ihn vor die Tür, unter Gejohle schmiß er ihn zwischen Kuhfladen. Die geschwollenen Adern am Hals des Bauern sieht May vor sich und riecht den säuerlichen Atem. Hat er sich gewehrt? Ist er davongerannt, Gespött für Kinder und Weiber? Ein geradezu kleiner Mann ist er nicht mit seinen hundertsechsundsechzig Zentimetern, aber seine Schultern sind schmal, seine Hände schlank und weich. Dennoch träumt er in dieser Nacht, wie er den Bauern mit drei Hieben fällt: Der erste trifft das Auge, das danach kein Auge mehr ist, der zweite zertrümmert die Zähne, der dritte, ein furchtbarer Schlag der eisenharten Rechten in die Herzgrube, läßt den Wüterich zusammenbrechen. Totenstill ist es in der Gaststube, bewundernd pflanzt es sich fort von Mund zu Mund: Karl May!
Wochen darauf schellt ein schnell und sehr sächsisch sprechender Vierziger an der Zuchthauspforte, ein Mann mit flinken, eng beieinanderstehenden Haselnußaugen und schadhaften Zähnen, in einem neuen Anzug und knarrenden Schuhen; er trägt den Mantel über dem Arm und eine blitzende Kette über dem Bauch: Doublé. Er stellt sich vor als Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer aus Dresden, der den Herrn Direktor sprechen möchte und, wenn möglich, den Züchtling May. Beim Schließer wartet Münchmeyer eine Viertelstunde, dabei verliert er einiges von der Forsche, zu der er sich bei Eintritt gezwungen hat; er wird zu Kochta geführt, der den Herrn Direktor entschuldigt, der weile zu amtlichem Behufe in Leipzig. Kochta und Münchmeyer messen sich mit den Augen, sie sind sich nicht sympathisch. Münchmeyer mag diese Holzschnittköpfe nicht, die das Bäuerliche nicht abgelegt haben und noch stolz sind auf ihre Unbeweglichkeit. Kochta findet Münchmeyer aufdringlich in seiner zur Schau gestellten Fürsorge, als breche ihm das Herz, wenn er hören müßte, May fühle sich unwohl. Kochta registriert rasche Handbewegungen, ein Reiben an der Nase, ein unmotiviertes Lachen, den Versuch zu einem Witzchen: Wer nichts wagt, kommt nicht nach Waldheim! »Bin nur mal so reingeschneit«, redet Münchmeyer, »hatte privat in Döbeln zu tun, meine Frau wartet im Gasthof. Ob ich meinen Autor sprechen darf?«
Das sei unmöglich, falls Herr Münchmeyer nicht eine Genehmigung des Justizministeriums vorweisen könne, May sei Zuchthäusler im Rückfall, nicht etwa Festungsgefangener. Kochta läßt nichts folgen, das weiterleitet, überleitet. So sinkt das Gespräch auf Sachliches ab, auf die Möglichkeit, May weiterhin bescheidenste Summen zukommen zu lassen, um ihm das Dasein zu erleichtern, auch, ihn anzuspornen. Damit ist das Thema erschöpft, Münchmeyer erhebt sich, nicht einmal zehn Minuten hat er hier zugebracht. Erst beim Hinausgehen sieht er, daß auch in diesem Raum die Fensterhöhlen tief und Gitter eingelassen sind.
Frau Münchmeyer ist überrascht, daß ihr Mann schon zurück ist. »Kein Erfolg?«
Münchmeyer lästert über den bäuerlichen Seelsorger, bestellt Bier und Sülze, Frau Münchmeyer rührt im Tee. »Du kennst doch Rechtsanwalt Meister. Womöglich kann er sich einsetzen, daß May eher entlassen wird?«
»Rückfalltäter schmoren bis zum letzten Tag.« Münchmeyers Stimme klingt versöhnlich, als er hinzufügt: »Laß ihn seine Strafe abbrummen, das nimmt ihm den Rest von Aufsässigkeit. Ich kann keinen halsstarrigen Autor gebrauchen. Ein junger Verlag – und er soll ja etwas abwerfen!«
Da lächelt Pauline Münchmeyer, sie hat unbedingtes Vertrauen, daß ihr Mann das schaffen wird. Man braucht eine größere Wohnung, wenn man Einladungen geben will, sie muß repräsentabel eingerichtet werden, Frau Münchmeyer weiß schon wie: Vorhänge aus Samt und Atlas, die das Licht schummrig machen, ein Öllämpchen, ewig brennend in einer Ecke, und das wäre der Glanzpunkt: ein arabisches Segel, das an einer Stange in den Raum hineinragt.
Münchmeyer redet jetzt weniger zu seiner Frau; einen Gedanken will er ausbreiten, als Zuhörerin ist Pauline immer nützlich. Eine Lücke klaffe im Angebot, und Mays Zeug passe hinein. Gespensterromane seien passé, May könne auch sie schreiben, keine Frage: schottisches Schloß im Nebel und Moor und Falltür, ein Gemälde mit lebendigen Augen. Echter Bedarf bestehe da nicht mehr. »Wenn ich ihn auf den richtigen Stoff hinlenke, schreibt er mir die gefragtesten Sachen. Phantasie hat der für hundert. Dorfgeschichten, arm und reich und gerecht und ungerecht sauber verteilt – hoffentlich merken die Leser nicht zu deutlich, daß sie sich ein verkrachter Schulmeister ausdenkt!«
Pauline Münchmeyer läßt ihre Hand auf den Unterarm ihres Mannes fallen. »Wir sollten auf deine Entdeckung eine Flasche Champagner trinken!«
»Ich bin nicht sicher, ob sie in diesem Gasthof so was haben. Aber wenn: Pauline, trinken wir auf unser neues Pferd!«
4
»Vierhundertzwei, mitkommen!« Zehn Augenpaare schnellen hoch zum Wachtmeister und rucken herum zu May. In einer Woche ist May draußen, das wissen sie. Vergeblich haben sie sich an ihn herangemacht mit Nachrichten an die Frau, die Braut, den Kumpan. Er hat alles