Erich Loest

Swallow, mein wackerer Mustang


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Frau murmelt, sie wolle es sich noch einmal überlegen. May zieht an seiner Zigarre. »Guten Tag.«

      Doßt wendet den Kopf. »Der May.« Das klingt überrascht, nicht einmal unfreundlich. »Gucke an. Wo kommste denn her?«

      Eine Welle der Scham steigt in May auf, er weiß: Wenn er sich diese Anrede gefallen läßt, wird er tagelang das Gefühl der Erniedrigung nicht loswerden. »Für Sie immer noch Herr May.« Er zieht den Entlassungsschein aus der Tasche.

      »Gestern noch Streifen am Arsch und heute den großen Rand.« Doßt kennt Exemplare wie May zur Genüge. Er wirft einen Blick auf den Schein. Vier Jahre, immerhin. Und zwei Jährchen Polizeiaufsicht. Den Blick hoch in Mays Gesicht, May hält stand, Doßt registriert kein fahriges, demütiges Lächeln wie bei den meisten entlassenen Ganoven – verzieht May nicht frech die Braue? »Wie lange soll’s denn diesmal dauern, bis du wieder drinne bist?«

      »Ich verbitte mir …«

      »Wenn du die Gusche aufreißt, guck ich jede Nacht um drei nach, ob du im Bette liegst.«

      May pafft demonstrativ Rauch aus, Doßt liest: Gute Führung, der Delinquent hat das Verwerfliche seines Tuns eingesehen. Das übliche. Und ein halbes Jahr später schmoren die Scheißer wieder.

      »Wo wirste arbeiten?«

      »Ich bin Schriftsteller.«

      »Was biste?« Doßt reißt den Mund auf: Das ist der Spaß überhaupt!

      May zieht ein Heft aus der Tasche, »Das Schwarze Buch«, erschienen bei Münchmeyer in Dresden. »Diese Geschichte hier ist von mir.«

      »Steht aber kein Name dabei.«

      »Anonym. Lesen Sie mal, ein Brief vom Verleger Münchmeyer an meinen Vater.«

      Doßt blättert und liest. Seine Verwunderung schlägt um: Da ist etwas nicht geheuer, wer weiß, wer hinter dem Kerl steht. Wer weiß, wem er im Zuchthaus zu Gefallen war und was hier für Verdienste belohnt werden. Ist er zum Spitzel geworden? Also Vorsicht, man kann nie wissen, und wer deckt schon einen Ratswachtmeister? Doßt murmelt: »Rauchst gutes Kraut.« Er liest: Gleich nach der Entlassung Ihres Sohnes werde ich mit ihm Verbindung aufnehmen. Mein Verlag … Unterschrift. Doßt schnieft. An einen Steckbrief erinnert er sich, den er vor Jahren verfaßt hat: May ist von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen, er trägt einen schwarzen Tuchrock mit sehr schmutzigem Kragen. Unbehaglich fühlt sich Doßt bei alldem, es läuft entschieden außerhalb des Gewohnten. Schriftsteller: Also doch Hungerleider, warum unbedingt ein Spitzel? Wer in Not ist, stiehlt eher als der Satte. Aufwiegler sollen’s schwer haben hier herum, man wird ihnen beizeiten aufs Maul schlagen. May hat einen Satz doppelt so schnell heraus, wie Doßt es je könnte, vermutlich hätte er ein Schriftstück in der Hälfte der Zeit aufgesetzt. Doßt fühlt sich redlich, königstreu, gerade in seinen Gedanken, und vor ihm steht einer, der schlau ist, gerieben, ein Advokatengehirn, Federfuchser, vielleicht nächstens ein politischer Agitator. Er wird ihm in den Hintern treten. Dieser verfluchte Wahlkreis 17 ist genug ins Gerede gekommen, seit hier der erste Sozialdemokrat in den Reichstag gewählt worden ist. Affenschande. Das rote Glauchau, das rote Ernstthal. »Solltest in den Schacht gehen nach Lugau oder Ölsnitz.« Doßt mustert Mays Schultern und Brustkorb, er denkt: Na, das schmale Handtuch. »Meldest dich jeden Tag um neun, bis du Arbeit hast.«

      »Aber ich …«

      »Wenn du die Gusche aufreißt, Karle, weck ich dich heut nacht um drei. Da ist ’ne Uhr weg, ich muß unter deinen Strohsack gucken. Na?«

      »Ich werde Ihnen baldigst einen weiteren Brief von Herrn Münchmeyer vorlegen.«

      »Kannste, Karle. Morgen um neun. Wie gesagt: Gutes Kraut rauchste.«

      Ein Stempel, eine Minute später steht May in der Sonne. Die Zigarre ist zu zwei Drittel aufgeraucht, sie hat ihre Pflicht getan. Sorgfältig drückt er sie aus. Hat er gesiegt? Durch Schluppen und Gärten flieht er aus der Stadt, an einem Dornbusch krümmt er sich auf das magere Frühlingsgras hinunter und preßt die Hand aufs Herz. Toben, Wüten und Schreien wie in einem Dorfwirtshaus ist in ihm, Stimmen gellen durcheinander: Du hast gesiegt, Doßt hat gesiegt, Doßt zerrt dich aus dem Bett, kommt jede Nacht, kommt nie. Einmal ein Häftling, immer ein Häftling, dein Leben lang werden der und die da und wer immer will mit Fingern auf dich zeigen: Dieb, Betrüger, Zuchthäusler! Ihm ist, als ob um ihn herum Hunderte von Bauernknechten mit Stuhlbeinen aufeinanderschlügen, Stimmengewirr, Zerren, Krachen. Er reißt die Jacke herunter und knöpft das Hemd bis zum Nabel auf, Wind kühlt die schweißige Haut.

      Mittags hat er sich leidlich in der Gewalt. Zu Ehren des Sohnes stehen Pellkartoffeln mit Hering auf dem Tisch. Er malt aus, wie er es Doßt gegeben habe; die Augen habe Doßt aufgerissen und die Geschichte Wort für Wort gelesen! Andere Entlassene suchten Arbeit in den Bergwerken, Doßt habe wörtlich gesagt: Herr May, dafür sind Sie zu gebildet!

      Die Mutter hängt an seinen Lippen. Dreizehn Kinder hat sie geboren, acht starben im ersten Jahr. Nur ein Junge ist groß geworden, Karle, Karlchen. Als er verstummt, setzt sie dagegen, daß ihre Wäschemangel hinten im Schuppen fast jeden Tag für zwei, drei Stunden vermietet werde. Zwei Pfennig nähme sie für die Stunde, sonnabends habe sie schon vierzehn oder sechzehn Pfennige verdient. Karli, ist das nicht fein?

      Am Nachmittag schreibt er, er schreibt am Abend und die halbe Nacht hindurch. Einen Brief an Münchmeyer, danach den Beginn einer wilden Geschichte mit Mord und Brand, Nacht, Friedhof. Es ist dunkel, als er ans Fenster tritt. Totenruhig liegt die Stadt. Der Vater hat ihn mit in die Schenke nehmen wollen, um seinen Freunden den künftigen Schriftsteller zu präsentieren. Keine Zeit, Vater! Er nimmt sich vor: Jeden Tag zehn Seiten! An diesem Abend füllt er sechs.

      »Danke, Herr May.« Doßt verbeugt sich, als May ihm eine Zigarre auf die Balustrade legt. »Schon Post aus Dresden?«

      »So schnell geht’s nicht.«

      »Also morgen wieder um neun, May!«

      An diesem Vormittag streunt er zu der Höhle hinauf, in der er sich einmal verborgen hatte. Birken sind aufgewachsen, Brombeergestrüpp überzieht Steinbrocken; niedriger ist das Loch im Fels, als es die Erinnerung bewahrte. Er will die Dämonen von damals herüberlocken, will am Nachmittag beschreiben, wie sich der Förstersohn Brandt – welcher Vorname? – Gustav Brandt, in einer Höhle verbarg, des Doppelmords angeklagt. Dieser Karl May von damals in seinem Drang aus furchtbaren Zwängen heraus – ich brauche mich vor der Erinnerung nicht zu ängstigen, suggeriert er sich, ich kann sie fruchtbar machen für mein Geschöpf Gustav Brandt.

      Auf dem Rückweg fühlt er sich taumlig vor Glück. Er vermag eine Welt zu erschaffen mit Schlössern, Bankierswohnungen und Hütten, kann sie bevölkern mit hochgestellten Schurken und buhlerischen Frauen, mit Förster und Hund, Wald und Kutsche, Mühlrad, Dolch und Lauscher unter dem Bett, mit Redlichen, Wucherern, Liebenden. Weiter hinauf im Gebirge hat er Schnitzern zugeschaut, die in ihren Stuben kunstreiche Gebilde bosseln an unzähligen Winterabenden, Weihnachtsberge genannt. Das sind Ausschnitte aus ihrem Leben, Bergwerk mit auf- und absteigenden Figuren, Wägelchen, Pferdchen, Häuschen mit Kühlein und Mägdlein am Brunnen; ausgetüftelter Mechanismus sorgt dafür, daß die Pferdchen die Wägelchen ziehen und das Mägdlein das Eimerchen in den Brunnen senkt. Wie diese Schnitzer, sinnt er, erschaffe auch ich eine zweite Welt; die Schnitzer brauchen Stunden für eine Figur, ich gebäre sie in Sekundenschnelle auf dem Papier.

      Die Mutter schleicht, wenn der Sohn schreibt, auf Zehenspitzen durchs Haus. Vier Tage nach seiner Rückkehr bringt der Postbote Vorschuß von Münchmeyer: zwanzig Mark. Das ist enorm viel Geld in den Augen der Mutter. May hat das Doppelte erhofft. Er braucht einen Anzug, wenn er sich in Dresden präsentieren soll. Er braucht Schuhe, Hemden, Uhr. In Waldheim hat er sich das Zigarrenrauchen angewöhnt; in den Nächten fliegen ihm die Gestalten müheloser zu, wenn Rauch seine Phantasie beflügelt. An einem Nachmittag steht er am Rande der Stadt, wo die Straße nach Waldenburg über den Hügel biegt. Auf dieser Straße verließ er zum ersten Mal Ernstthal, er, der beste Schüler seiner Klasse, empfohlen vom Lehrer und vom Pfarrer ans Lehrerseminar. Der einzige Weg für mich, aus der Enge herauszukommen, erinnert er sich jetzt und versucht