Erich Loest

Swallow, mein wackerer Mustang


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am Sonntag drüber. Da dürfen Sie doch weg von Ernstthal?«

      »Sonntags muß ich mich nie melden.«

      Doßt, Doßt! Fünf Stunden braucht May von Dresden nach Ernstthal, vom Bahnhof eilt er manchmal direkt zum Rathaus; gelegentlich braucht er nur den Kopf durch die Tür zu stecken, und der Polizist winkt schon ab: In Ordnung! Auf der Rückfahrt streunt er in Chemnitz zur Brückenstraße, in einer Seitengasse liegt eine Druckwerkstatt. »Ich benötige Visitenkarten.« Eine Frau legt Muster vor, so, so, verschnörkelt oder nicht allzu sehr. Redakteur Karl May, Dresden, malt er auf einen Karton. Oder besser so: Karl May, Redakteur, Dresden und Ernstthal.

      »Wir können’s auch mit Goldrand machen, Herr Doktor.«

      Die Hand probiert: Dr. Karl May. »Gut, machen Sie’s so.« Schnell schreibt die Hand, als solle der Kopf nicht wissen, was sie tut: Dr. Karl May, Redakteur, Dresden und Ernstthal. »Zwei Dutzend bitte.«

      »Wir drucken gewöhnlich fünf.«

      »Also fünf. Bis Freitag?«

      »Bittschön, Herr Doktor.«

      Daheim malt er sich aus, wie er Münchmeyers Wohnung betreten wird, mit einer Verbeugung, Blumen in der Hand. Im Sessel sitzt er, ein Bein locker über das andere geschlagen – famoses Kraut, stört der Rauch nicht, gnädige Frau? Ja, ich hab mir Gedanken gemacht über die Zeitschrift, ich bedanke mich für die Ehre. Auf meiner Heimat lastet auch jetzt noch viel Not, besonders auf den Bergarbeitern. Der aufsässigste Winkel des ganzen Reiches, ja, leider! Ein gewisser Bebel. Also eine Zeitschrift speziell für die in Bergwerken und Hütten arbeitende Bevölkerung. Er denkt: Die halte ich Doßt hin! Während er durch die Fluren um Ernstthal schweift, sinnt er nach über die Möglichkeit, Bildung gepaart mit Frömmigkeit in die Häuser der Armen zu tragen, gewissermaßen nachzuholen, was die armselige Schule versäumt. Er war ja Lehrer, wenn auch nur kurze Zeit. Das wird er seinem Verleger sagen: Was vermag schon die Schule auszurichten, ich weiß es, ich hab in der Pädagogik von der Pike auf gedient!

      Erdkundliche Predigten vielleicht. Geographie, Weltkunde für Erwachsene. Wer wissend ist, erliegt schwerlich der Demagogie. Er stellt sich vor, wie er die Zeitschrift dem Ratswachtmeister hinschiebt: Von mir. Er schaut sich um, Wolken fliegen hoch oben, das Gebirge liegt in Wellen vor seinem Blick von der Augustusburg bis zum Auersberg mit Keil- und Fichtelberg in der Mitte. Ein Satz bildet sich: Wenn in stiller Abendstunde der ernste Blick sich zu dem funkelnden Diadem des Himmels erhebt. Dies muß der Stil sein: Getragen, erhaben: Dort, wo der Orinoko seine Fluten dem Golf von Paria zuwälzt. Oder: Wahrlich, man muß dem kühnen Mann, der sich dem schwachen Bau seiner Hände anvertraut, um sich durch Not und Tod zum fernen Land zu ringen, wohl Bewunderung zollen. Wie in einer Predigt muß die Sprache klingen, um in den Herzen der Geplagten ein Flämmchen leuchten zu lassen. Dies könnten die Kapitel sein: Himmel und Erde, Land und Wasser, Berg und Tal, Wald und Feld. Weitere über das Tier, die Verkehrswege, den Menschen schließlich in seinem Heim und bei seiner Arbeit.

      Am Abend schreibt er: »Mag der Denker auch über die Dürftigkeit seiner Erkenntnisse seufzen und unbefriedigt dem unerreichbaren Ziel nachspüren, bis der Tod ihn den Schritt ins Jenseits lehrt: Der Gedanke, der ihn erleichtert, lebt fort und geht auf andere Geister über, um unter Sturm und Drang immer weiter entwickelt und ausgebildet zu werden. Immer neue herrliche Schöpfungen werden geboren, die nach dem Gang der Wahrheit streben …« Die Feder fügt Wort an Wort, steil, ohne Korrektur, die Linke hält die Zigarre. Ruhe liegt über Ernstthal, er schreibt: »… hebt unfehlbar doch zuletzt den Blick empor zum Himmel und lenkt das forschende Auge auf die hellen Punkte, von denen jeder eine Welt bedeutet. Im Glanz der Sterne nun entfaltet die Wunderblume der Erkenntnis ihre schönsten Blüten.«

      Der Tag müßte achtundvierzig Stunden haben. Wenn er in Ernstthal ist, schläft er bis sieben oder acht; die Mutter hat ihm Morgensuppe aufgehoben. Seinen Rundgang macht er durchs Städtchen, wie zufällig steckt er den Kopf in Doßts Amtsstube hinein. Der Mutter kauft er Stoff für einen Rock, dem Vater steckt er eine Mark für Bier zu, von der die Mutter nichts zu wissen braucht. Von Mittag an schreibt er, am Abend macht er eine Pause von zwei Stunden, dann arbeitet er weiter bis zwölf, zwei, drei in der Nacht.

      Auf der Fahrt nach Dresden holt er die Visitenkarten ab. Als er sie in den Händen hält, probiert er im Geiste aus, wie das klingt: Herr Doktor May. Darf ich bekannt machen: Herr Doktor May. Dieser Artikel stammt vom Doktor. Bring mal die Druckfahnen rauf zum Doktor! Hat gewonnen, die Zeitschrift, seitdem Doktor May sie redigiert.

      Er schaut in die Augen der Frau und sucht ein Zwinkern darin, Argwohn, verstecktes Lächeln. Doch sie erwidert unbewegt seinen Blick, sie ist an solche Kunden gewöhnt. Vielleicht ein kleiner Beamter oder ein Kontorfuchser, wer weiß, wem er imponieren will. Doktor, der doch nicht. »Wir können jederzeit nachdrucken.«

      Er zahlt und flieht fast aus dem Laden. Nach hundert Schritten probiert er wieder: Guten Morgen, Herr Doktor! Fräulein Ey wünscht das mit einem Knicks. Nein, im Verlag wird er sich nicht als Doktor ausgeben. Überhaupt nicht so bald.

      Eine Stunde lang bürstet er den Anzug, die Schuhe. Er hält Blumen in der Hand, als er an Münchmeyers Tür schellt. Ein Mädchen öffnet, Münchmeyer begrüßt seinen Gast im Korridor. Er amüsiert sich: May wirkt aufgeregt wie ein Lehrling, der zum erstenmal ein Mädchen zum Tanz holt. Mein Gott, zweiunddreißig ist der Mann, sieben Jahre war er hinter Gittern, und da sagt man nun, Knast zähle doppelt!

      Das Speisezimmer hat sich May dreifach so groß vorgestellt, er prallt an der Tür fast auf die Damen, dahinter steht gleich der Tisch. Er hat Schritte tun wollen auf eine ausgestreckte Hand zu, jetzt findet er kaum Raum, Frau Münchmeyers Rechte zum ersten Handkuß seines Lebens hochzuziehen. Fräulein Ey kichert, das gilt nicht ihm, aber er münzt es auf sich, da er beim Handkuß der Dame des Hauses nicht gegenübersteht, sondern aus Raummangel im spitzen Winkel. »Ihr Gatte war so freundlich …«

      »Nehmen Sie bitte Platz, Herr May!« Aber May weiß nicht wo, in seinen Geschichten locken die Damen die Herren, die den Salon betreten, mit bloßem, vollem Arm auf ein Sofa an ihre Seite. Er kann sich doch wohl nicht an den gedeckten Tisch setzen; zwischen ihm und einem Stühlchen hat Minna Ey einen Schrank geöffnet, Münchmeyer sagt: »Mit der Suppe haben wir noch ein bißchen Zeit. Na, kommen Sie rüber! Sagen Sie mal, spielen Sie eigentlich ein Instrument?«

      »Klavier, ich hab’s auf dem Lehrerseminar gelernt. Aber ich hab’s vernachlässigt, leider.«

      Vernachlässigt, diese Formulierung findet Münchmeyer urkomisch. »Ich spiele Geige. Vielleicht musizieren wir gelegentlich mal zusammen?« Münchmeyer erwähnt nicht, daß er als junger Mann auf Dörfern zum Tanz aufgespielt hat.

      Am Rücken von Fräulein Ey vorbei bugsiert er May zu einer Seitentür, vor Ledersesseln stehen sie jetzt, vor einem Bücherschrank und einem Gemälde: eine weitgewandete junge Frau neigt sich zu einem verwundeten Soldaten, der in einem Korbstuhl auf einer Veranda ruht.

      »Wissen Sie, Herr May, daß ich einmal mit meinem Mann in Waldheim war?«

      Diese Stimme ist hinter ihm, die Stimme von Frau Münchmeyer klingt über seinem Kopf, da wird ihm bewußt, daß er sitzt, während die Frau steht, er drückt sich eilig hoch und wendet sich halb zu ihr. »Ich kenne nichts von Waldheim außer« – er will sagen: außer dem Zuchthaus, er fürchtet, es klänge erkältend in diesem Zimmer und zu dieser Stunde.

      »Natürlich logierten Sie nicht im Gasthof.« Die Stimme Münchmeyers dröhnt halb unter May, ein Meckern folgt. May hat die Knie eingeknickt, da ruft Fräulein Ey: »Die Suppe, wollt ihr schon die Suppe?«

      Er findet aus seiner halb stehenden, halb zur Seite gedrehten Haltung heraus und in den Sessel hinunter, er lächelt Münchmeyer an; als er sich dieses Lächelns bewußt wird, erschrickt er: Es gibt keinen Grund dafür. »Nach Waldheim bin ich zu Fuß«, dringt es von seiner Zunge, »von Mittweida.« An einen Gendarmen gekettet, ein zweiter ging hinterher, aber das erwähnt er nicht. »Und fort bin ich mit der Eisenbahn. Den Berg zum Bahnhof hinauf.« Von dort und vom Zug aus sah ich noch einmal das Zuchthaus – auch das bleibt ungesprochen.

      »Also die Suppe!« Minna