Erich Loest

Swallow, mein wackerer Mustang


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sei, wer er vorzulegen habe – hat er vorzulegen? Das Mädchen serviert Brühe mit Eierstich. »Nehmen Sie sich von den Croutons«, bittet Frau Münchmeyer. »Ich weiß nicht, ob Sie sehr verwöhnt sind.« So konversiert sie jedesmal, wenn sie Rebhühnercroutons serviert. »Nein, gar nicht«, er errötet und beugt sich über den Teller, um es zu verbergen. Sein rechter Unterarm bleibt auf dem Tisch liegen, während er den Löffel zum Mund führt, das merkt er und richtet sich erschrocken auf, kommt ins Husten, beinahe ins Prusten, von einer Sekunde auf die andere beginnt er zu schwitzen.

      »Joi, joi, joi«, begütigt Münchmeyer. »Bißchen heiß vielleicht?«

      »Nehmen Sie sich Zeit, Herr May.« Pauline Münchmeyer legt den Löffel auf den Tellerrand. Vielleicht sollte man sich gar nicht mehr um diesen Stiesel kümmern, irgendwie wird er sich durchwursteln. Was tut man nicht alles für die Firma! Für den hätte eine Kaffee-Einladung genügt. Diese Krawatte, mein Gott! Ob Minna ihn noch immer rührend findet? Ach, Schwesterchen, du mit deinem Männergeschmack!

      May beißt in ein Crouton wie Münchmeyer, kaut langsam wie Münchmeyer, nickt schmeckerisch. »Wunderbar zur Suppe!« Münchmeyer hat schon zu Ende gelöffelt, May holt auf. Tischunterhaltung bröckelt: Frau Münchmeyer fühle sich noch immer beengt: Was jetzt in Strießen für herrschaftliche Wohnungen gebaut würden, sechs Zimmer, eine ganze Etage! Münchmeyer, der nicht möchte, daß May glaubt, der Verlag werfe Unsummen ab, brummt, die Miete für diese Wohnung hier sei happig genug. Neue Möbel kämen ja gar nicht in Frage. Wer in der Krise Sprünge mache, fliege aufs Kreuz, man kenne Beispiele. Wo der Verlag im Wandel sei. Frau Münchmeyer schwärmt: Ein orientalischer Salon mit Löwenfell und arabischem Segel, wie heißt es doch gleich? May weiß es, hat aber den Mund voll, und ehe er gekaut und geschluckt hat, redet Minna von Papierpreisen, Druckerlöhnen – Münchmeyer wiederholt nicht sonderlich freundlich: Bleibt auf dem Teppich! Zum Hammelrücken nimmt May zuviel Soße und quetscht die Kartoffeln hinein zu einem mißfarbenen Brei. Beim Aufblicken sieht er, wie Fräulein Ey belustigt seinen Teller mustert, da meint er, seine Schultern zögen sich wie im Krampf zusammen; wenn es schlimmer werden sollte, wird er die Arme nicht mehr bewegen können, dann fallen ihm Messer und Gabel aus der Hand und klirren gegen den Tellerrand, Frau Münchmeyer wird davonstürzen. Um dieser Furcht zu begegnen, muß er sich aufrichten, er streckt sich, daß Münchmeyer fragt: »Haben Sie sich verschluckt?« May schüttelt den Kopf, nein, gar nicht.

      Über Käsestangen quält er sich dem Ende der Mahlzeit zu, eine Viertelstunde später weiß er schon nicht mehr, was er gegessen hat. Da ärgern sich in der Küche die Schwestern, diesen verklemmten Kerl zum Essen geladen zu haben. Man ist kein Nachhilfeinstitut für Zukurzgekommene. Das nächste Mal setzt man Bratwurst und Bier vor. Das Dienstmädchen kreischt. Minna Ey: »Aber er hat mir leid getan!«

      »Lad ihn noch mal ein und gib ihm Unterricht, wie man das Messer anfaßt.« Das sollte ein Spaß sein, aber Minna lacht nicht.

      Drin im Herrenzimmer verbreitet sich der Verleger indessen über die Krise, in die manche Unternehmen gestürzt sind. Viel zuviel Geld war im Umlauf durch die fünf französischen Milliarden, zu hektisch sind manche Aktiengesellschaften an den Ausbau gegangen. Wer nichts verdient, kauft keine Zeitschrift; wenn sich die Zusammenbrüche häufen, wird sich das auch für das Haus Münchmeyer bemerkbar machen. Also behutsam einen Schritt nach dem anderen. »Mal zur Sache: Was hielten Sie davon, Redakteur des ›Beobachters‹ zu werden?«

      »Ich muß mich ja ständig in Ernstthal melden.«

      »Vielleicht schaffen Sie die Arbeit an einem Tag.« Natürlich müsse sich May einige Praktiken aneignen im Umbruch, im Korrigieren der Satzfahnen und so weiter, aber das sei erlernbar. Man könne es einrichten, daß May dem jetzigen Redakteur, der sich verändern wolle, über die Schulter schaue. Münchmeyer weiß, daß er auf solche Weise einen Hilfsredakteur gewinnt, der umsonst arbeitet. »Vielleicht, daß Sie sich bis zum März eingewöhnen?«

      May ringt sich durch: »Und das Gehalt?«

      »Wird sich nach Ihrem Können richten.« Münchmeyer bietet eine Zigarre an und nimmt sich vor, wenn sie aufgeraucht ist, zu verstehen zu geben, daß damit die Einladung ihr Ende habe. Kein Likör, er hat sich großzügig genug gezeigt. Mitleid mildert seine Stimmungslage: Mein Gott, vor fünf, sechs Jahren haben seine Frau und er auch noch nicht von Porzellan gegessen, ihr Einkommen ist explodiert. Pauline übertreibt, keine Frage. May muß sich in dieser Umgebung doppelt als der arme Schlucker vorkommen, der er ist. Immerhin, er erkennt seine Grenzen.

      »Vielleicht, daß wir so verbleiben: Sie machen sich mit der Redaktionsarbeit vertraut. Die letzte Entscheidung vertagen wir?« Münchmeyer legt Jahrgangsmappen auf den Tisch, zeigt, hier und da wird man verändern müssen. Gerichtsberichte, Marktberichte, Anekdoten aus dem Heer. Natürlich immer wieder Erinnerungen von Teilnehmern des Einigungskrieges. Schulter an Schulter mit Bayern und Preußen. Das hier ist superb: Ein sächsischer Füsilier rettet vor Paris einem Preußen das Leben und verliert dabei sein eigenes. Vorher erkennen beide: Vier Jahre vorher haben sie bei Königgrätz gegeneinander gefochten. »Übrigens, ein Kriegerverein braucht für seine Zeitschrift ein Gedicht über unseren König. Seine Schlachten, na eben ’n Heldenepos.«

      »Ich könnt’s versuchen.«

      »Ein Freund vom Stammtisch hat mich gefragt. Viel springt nicht dabei heraus, aber Kleinvieh – schaffen Sie’s bis nächste Woche?«

      Ja, verspricht May, ja. Er hat aufgeraucht; über Münchmeyer hängt das Bild mit dem verwundeten Krieger, aus der Zimmerecke heraus biegt sich ein Palmwedel halb davor. Schwere überkommt May vom Essen und nervlicher Anspannung. Münchmeyer müßte sich auflösen, eine Frau müßte eintreten, sanft, mit weißen Armen. Wieder Schritte auf dem Korridor, da schrickt er auf. »Ich darf mich verabschieden, Herr Münchmeyer. Ihrer Frau Gemahlin …«

      »Sie hat sich ein wenig hingelegt.«

      »Dann darf ich bitten …«

      Münchmeyer steht schon, ehe May aus dem Sessel findet. Auf dem Korridor setzt May noch einmal zu Dankessätzen an, aber Münchmeyer unterbricht: »Am Dienstag wie immer.«

      Drei Tage lang quält sich May wegen seines mißlungenen Debüts, immer wieder fällt ihm ein, wie Minna Ey auf seinen Teller gestarrt hat. In einem Geographiebuch schlägt er nach und übernimmt, daß die Inder seit 3102, die Chinesen seit 2449 und die Babylonier seit 2107 vor Christi Geburt astronomische Beobachtungen anstellten. Er schreibt: Wer verspürte keine Demut angesichts dieser Zahlen!

      Zum erstenmal schaut er zu, wie Druckseiten umbrochen werden. Ein Metteur redet ihn mit du an, May kontert scharf: »Ich bin kein Lehrling!«

      Der Metteur blickt erstaunt über die Brillengläser. »Lehrlinge brauchen keinen Einstand zu geben.« Die Setzer brüllen vor Lachen.

      Am Abend reimt er:

      Horch, klingt das nicht wie ferner Schwerterklang?

      Die Marsch bebt unter dampfenden Schwadronen.

      Es jagt der Tod den weiten Plan entlang.

      Und erntet unter brüllenden Kanonen.

      Bei Düppel ist’s, des Dänen trotzger Sinn

      will deutsches Recht in deutschen Landen beugen …

      Erst das Reimpaar notieren: Mit goldnem Stift – Schrift. Jahren – Scharen. Grauen – Vertrauen. Weiter im Rhythmus:

      Denn die Geschichte schreibt mit goldnem Stift

      Und mißt Triumphe nicht nach kurzen Jahren.

      Drum glänzt es fort in heller Flammenschrift:

      »Der Löwe Sachsens ist’s mit seinen Scharen!«

      Durch Böhmens Wälder wälzt sich wild die Flut,

      Ein Einziger steht ohne Furcht und Grauen …

      Die Niederlage bei Königgrätz sollte er nicht ausmalen, Albert focht auf der unterliegenden Seite. Doch den Rückzug, liest man allenthalben, soll er glänzend organisiert haben. Rasch zum Einigungskrieg: