Gesicht heiterte sich etwas auf. Sie überlegte, rechnete hin und her. Man sah es ihr an. „Gut, abgemacht. Sie zahlen mir 350 Euro und machen es hübscher. Und ich hole nächste Woche den Kühlschrank ab und bringe Ihnen einen Kleineren. Wissen Sie denn, wie lange Sie bleiben wollen?“
Das war ein wunder Punkt. Nach meinem gestrigen Tag im Archiv hatte ich das Gefühl, keinen Tag länger bleiben zu müssen. Aber wer weiß, was sich alles noch ergeben würde.
„Einen Monat auf jeden Fall, vielleicht auch zwei oder drei.“
Dann ließ sie sich meinen Pass geben, füllte allerhand Zettel aus und verschwand mit den Unterlagen. Unten am Treppenaufgang wurde kontrolliert. Hinter einem Fenster taten drei Damen in Kittelschürzen ihren Dienst, die Dezhurnajas. Neuankömmlinge und Fremde wurden sofort erkannt. Hatten Sie weder Passierschein noch Ausweis dabei, konnte es ungemütlich werden. Mancher Besuchswunsch endete an diesem Fenster. Damit es mir nicht auch so ging, wurden die Alten im Kontrollkabuff gut informiert. Nadezhda schrieb mir ihre Telefonnummer und Mailadresse auf und ich gab ihr die erste Rate. Der Schlüssel steckte innen. In Russland schloss fast jeder nach Betreten der Wohnung von innen ab. Manche hatten Stahltüren mit mehreren Schließbolzen. Ich hatte drei Bolzen. Nadezhda schärfte mir ein, das Schließreglement auch so zu handhaben. „Und wenn irgendetwas sein sollte Anna, dann gehen Sie bitte zu Wolodja. Er wohnt schräg gegenüber, in der 324. Er kann Ihnen helfen. Ansonsten sprechen Sie lieber niemanden an. Und grüßen Sie hier am besten auch keinen. Zu viel Freundlichkeit fällt nur auf. Bitte auch keine Gespräche auf dem Flur. Besser nicht. Und immer schön ans Abschließen denken.“ Dann war sie weg.
Da saß ich nun in meiner neuen Bleibe. Ich öffnete das Fenster und lehnte mich aufs Fensterbrett. Was für ein herrlicher Ausblick: am Horizont die Silhouette einer Insel, davor ein paar Segelboote, dazu das gleichmäßige Plätschern der Wellen und das Möwengeschrei. Fast einen Tick zu idyllisch. Trotzdem, so wollte ich immer schon wohnen. Ich brauchte mich ja nicht umzudrehen … Mir fiel ein, dass ich noch nach der Internetverbindung hatte fragen wollen. Blöd, dass ich das vergessen hatte. Egal, ich würde ihr noch vom Hotel aus eine Mail schicken. Ohnehin sollte ich mich auf den Weg machen, denn ich wollte auch noch einmal ins Archiv. Gestern hatte ich wegen der Akten so gedrängelt, da konnten die Mitarbeiter schnell pikiert sein, wenn ich mich schon am zweiten Tag nicht blicken ließe.
Erste Begegnungen im Block
Ich wollte gerade das Fenster schließen, als ich ein sanftes Klopfen an der Tür hörte. Erst dachte ich, dass die Geräusche vom Nachbarn kämen, aber dann wurde das Klopfen energischer. Und ich hörte eine Stimme.
„Olga, bist du es?“
Was sollte ich machen? Ich hatte gerade erst den Schlüssel bekommen, Nadezhda hatte mich indirekt vor den Nachbarn gewarnt und ich war nicht Olga. Aber was sollte mir eine Frau mit solch zarter Stimme schon antun? Leider hatte ich keinen Spion. Egal, ich schloss auf. Vor mir stand eine zierliche Frau um die dreißig. Sie sah blass und kränklich aus, fast ein bisschen abgemagert. Ihre krumme Haltung ließ sie älter wirken. Sie war in eine dicke Strickjacke gewickelt, die ihr eindeutig zu groß war. Darunter kam eine graue Jogging-Hose zum Vorschein. Die Haare trug sie kurz, einfach abgeschnitten, ohne erkennbare Frisur. Ihr Äußeres entsprach nicht dem Standard der sonst eher schicken und rausgeputzten Russinnen.
„Ach, Sie sind ja gar nicht Olga. Wie schade. Ich hatte die Sluchina unten gesehen und gehofft, dass sich alles wieder eingerenkt hätte.“
Eingerenkt? Die Sluchina? Marina hatte in ihrem Brief angedeutet, dass die Vormieterin lange hier gewohnt hatte und unerwartet ausgezogen war. Das Zimmer sah dementsprechend aus. Aber was hatte das „eingerenkt“ zu bedeuten? Vor mir stand eine verzweifelt wirkende Frau, der ich gerade eine Hoffnung genommen hatte. Bei meinem Anblick wurde sie gleich noch krummer.
„Entschuldigen Sie, ich möchte Sie nicht belästigen. Es ist nur so, dass wir gute Freundinnen sind. Plötzlich war Olga weg. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich mache mir einfach Sorgen. Und als die Sluchina, also ich meine Nadezhda Walentinowna, mir über den Weg lief, hatte ich gehofft, alles wäre wieder beim Alten. Aber entschuldigen Sie, ich habe mich ja nicht einmal vorgestellt. Ich heiße Tatjana, Tatjana Petrowna.“
Sie hielt mir ihre Hand hin und ich erwiderte den zarten, fast lapprigen Händedruck. ‚Die bräuchte mal ein richtiges Steak‘, war mein erster Gedanke …
„Und ich bin Anna. Ich habe die Wohnung hier gerade vor einer halben Stunde gemietet, da wusste ich nichts von einer Olga. Und Nadezhda Walentinowna hat auch nichts erwähnt. Nur ihre Nichte hatte angedeutet, dass die bisherige Mieterin Hals über Kopf ausgezogen ist. Was für Probleme gab es denn? Aber setzen Sie sich doch. Wir stehen hier an der Tür herum wie die Möbelpacker … Leider kann ich Ihnen nichts anbieten, nicht einmal einen Tee.“
Tatjana lachte. „Sie sind nicht von hier, stimmt’s? Bei uns sagt das keiner – „herumstehen wie die Möbelpacker“.
Bei uns auch nicht, dachte ich, aber mir fiel gerade nichts Besseres ein. „Ich bin aus Deutschland, aus Berlin. Zuerst habe ich im Hotel gewohnt, im Versal, aber das ist nichts für mich. Ich bin erst seit ein paar Tagen in Wladiwostok. Im Hotel habe ich Marina kennengelernt. Sie arbeitet an der Rezeption und hat mir das Zimmer hier vermittelt.“
„Im Versal?“
Tatjana musterte mich: Schuhe, Fingernägel, Frisur. Wahrscheinlich hätte ich das nicht sagen sollen. Eigentlich war das Hotel nichts Besonderes, aber sein Ruf aus alten Zeiten hing ihm noch an. Jeder, der Versal hörte, dachte Kempinski. Seine Gäste konnten nur reiche Schnösel sein.
„Es war ein Geschenk, eine sentimentale Geste eines älteren Herrn, der besondere Erinnerungen mit dem Haus verbindet. In seinem Auftrag bin ich auch hier.“
Nun hellte sich das Gesicht wieder auf, vielleicht auch, weil ihr taxierender Blick und die Analyse von Schuhwerk, Zwirn und Haarstyling keinen Anhaltspunkt für überbordenden Reichtum geliefert hatten.
„Das hört sich ja aufregend an. Vielleicht mögen Sie mit zu mir kommen. Dann koche ich uns einen Tee und Sie erzählen mir von Ihrer Mission. Ich habe ganz ausgezeichnete Pasteten. Die hat meine Mutter selbst gemacht und heute Morgen erst vorbeigebracht. Sie ist zu Besuch hier. Mögen Sie Pilze? Sie werden sie lieben!“
Ich dachte an das Archiv, an den Rucksack im Hotel, an Nadezhda – keine Gespräche auf dem Flur bitte … Alles sprach dagegen, diese spontane Einladung anzunehmen. Andererseits … Es war genau das, was ich an Russland so mochte.
„Gern, aber ich kann nicht lange bleiben, weil ich einiges zu erledigen habe. Mein Gepäck ist noch im Hotel.“
Zwei Stunden später saßen wir schon beim Cognac – die bürgerliche Alternative zum Wodka. Ich mochte keine harten Sachen, wollte aber nicht unhöflich sein. Früher wurde mir das oft zum Verhängnis. Heute war ich schlauer und nippte nur ab und zu mal am Glas. Tatjanas Wohnung lag gegenüber, nur zwei Türen weiter. Dass sie komplett anders wirkte, lag daran, weil sie zwei Wohnungen zusammengelegt hatte. Die Trennwand war bis zur Mitte herausgerissen, sodass man direkt in einen großen Raum trat, die Küche. Eigentlich ganz gemütlich, wenn es nur ein Fenster gäbe. Von der Küche kam man in ein Schlaf- und Wohnzimmer. Dort waren neue Wände eingezogen. Die zweite Wohnungstür war mit einem Regal zugestellt. Ein Bad konnte ich nicht entdecken. Man sah, dass viel Arbeit im Umbau steckte. Ich fragte mich, ob Tatjana das alles selbst bewerkstelligt hatte oder ob es einen Mann im Haus gab.
Bisher hatte Tatjana nur von Olga erzählt – wie sie ins Haus gekommen war, was sie beruflich machte und warum es Probleme gab. Für mich hörte sich das alles ein bisschen unheimlich an. Wäre Tatjana mir heute beim Frühstück begegnet und hätte ich erfahren, was hier alles passiert war, wäre ich wahrscheinlich nicht eingezogen. Jetzt war es zu spät. Ich tröstete mich damit, dass vielleicht nur die Hälfte ihrer Geschichten stimmte. Um nicht noch mehr zu erfahren, drängte ich zum Aufbruch. Die Arbeit im Archiv konnte ich abhaken, vielleicht würde ich noch kurz vorbeischauen, um wenigstens ein Findbuch durchzugehen. Aber sicher würde man den Cognac riechen.