unzähligen Gremien, engagierte sich für dieses und jenes, hatte Geld und Einfluss. Die dicken Bände verrieten, dass er angesehen war und die Geschicke der Stadt wesentlich mitbestimmte. Was er nicht alles gefördert hatte … Die Universität hätte es ohne sein Zutun sicher so nicht gegeben. Doch war er nicht nur geachtet, sondern auch beliebt. Die Menschen schätzten ihn – nicht nur seine Geschäftspartner, auch seine Mitarbeiter, ja sogar die Kunden.
Ljudmila schaute ab und an hinter ihrer Brille zu mir rüber, immer unauffällig, aber doch wachsam prüfend. Ich war ein Fremdkörper in diesem Lesesaal und sie wusste nicht, wie sie mit mir umgehen sollte. Eine Historikerin, die nichts aufschrieb, die nur blätterte, manchmal schmunzelte, zuweilen sogar lachte. Ja, einmal musste ich wirklich laut lachen. Dattan war zum Schweizer Honorarkonsul berufen worden und hatte zudem einen Verdienstorden erhalten. Nun befand er es als vordringliche Angelegenheit, die Gouvernementverwaltung über diesen Sachverhalt zu informieren, damit diese die Titel bei künftigen Einladungsschreiben bitte entsprechend verwenden möge.
Dass so jemandem von heute auf morgen fast alles genommen wurde, nicht nur der Besitz, sondern vor allem die Ehre, muss ein Schock gewesen sein. Einen kurzen Moment dachte ich an Olga. Auch sie hatte offenbar viel verloren, aber von ihr wusste ich noch viel weniger. Ich hing in Gedanken ihrer Geschichte nach, dann schaute ich wieder in die Akten. Nein, ich durfte mich nicht verzetteln. Nachher würde ich Tatjana sehen, vielleicht würde ich dann mehr erfahren.
Als ich meine Arbeit beendet hatte und die Akten zum Tisch brachte, kam ein kurzes: „Zurück?“. Ich wusste, dass das im Archiv ausgesprochene „Zurück?“ eigentlich ein: „ganz zurück, ins Depot?“ bedeutete. Keiner gab gern Akten „ganz zurück“. Man konnte nie wissen, ob nicht doch noch etwas nachgeschaut werden musste. Ich brauchte aber keine Nachschlagesicherheit und hatte deshalb zwei Stapel vorbereitet. Der Große links konnte ganz zurück, den Kleinen rechts wollte ich behalten.
„Ja.“
„Das alles hier soll zurück? Haben Sie das überhaupt sorgfältig gelesen? Sie hatten den Stapel gerade mal einen Tag. Ich bezweifle, dass Sie das hinreichend gründlich durchgearbeitet haben.“
Diese graue Maus ging mir schon jetzt auf den Geist. ‚Hinreichend gründlich …‘ Aber ich hatte das untrügliche Gefühl, dass es sie am meisten ärgern würde, wenn ich gar nicht erst darauf reagierte.
„Ich glaube schon“, sagte ich deshalb, lächelte sie an und nahm meinen Passierschein. Das heißt, ich wollte es, denn nun schlug die Regentin zurück.
„Erwähnten Sie nicht vorhin, dass Sie eine neue Adresse haben? Da müssen wir einen neuen Passierschein ausstellen.“ Oje, das konnte dauern …
Olgas Verschwinden
Um fünf klopfe ich wie verabredet bei Tatjana. Sie war zwar immer noch blass, wirkte aber nicht mehr ganz so niedergeschlagen wie gestern.
„Da sind Sie ja. Kommen Sie doch bitte herein, ich koche uns einen Tee. Ich habe Neuigkeiten. Stellen Sie sich nur vor, ich habe eine Postkarte von Olga bekommen. Genau heute, wenn das kein Zufall ist. Sie sind mein Glücksbringer! Olga hat geschrieben, dass es ihr gut geht und dass sie mir beizeiten alles erklären wird. Wo sie steckt, hat sie nicht erwähnt, aber schauen Sie mal auf den Stempel. Das ist doch etwas Asiatisches, oder? Entweder China, Japan oder Korea. Ist auch egal, Hauptsache sie lebt.“
Eigentlich wollten wir zu Wolodja runter, in seine Schatzkammer, und uns um die Streichutensilien kümmern. Stattdessen ging es gleich wieder nur um Olga. Leider.
„Wer war denn derjenige, der ihr so zugesetzt hat?“ Ich wollte das wissen, um hier nicht zufällig diesem Typen in die Arme zu laufen.
„Dimitrij. Dimitrij Ibraimowitsch. Er wohnt auf unserer Etage, ganz hinten in der 311.“
Ganz hinten … Ich wohnte in der 321. Wenn ich mir das genau besah, trennten uns nur vier oder fünf Wohnungen.
„Warum ist Olga nicht zur Polizei gegangen. Der Typ gehört doch hinter Gitter.“
Tatjana ließ die Schultern sinken und schaute nach unten. „Ja, da haben Sie recht. Aber bei uns, wer hört da schon auf das Klagen einer Frau? Auf der Wache hätten sie gesagt, wer seine Miete nicht allein zahlen kann, der muss sich eben das eine oder andere gefallen lassen. So sind die Männer. Wissen Sie, bei uns gibt es das Sprichwort ‚Wenn der Mann seine Frau schlägt, so liebt er sie.‘ Es ist nicht so selten, dass Frauen öfter mal eine übergezogen bekommen.“
Tatjana stockte.
„Aber das, was Dimitrij mit Olga angestellt hat, ist auch hier nicht normal, auch wenn wir Russen härter im Nehmen sind. Das Schlimme ist, dass es mitzubekommen war. Ich bin mir sicher, dass alle, die in dieser Etage wohnen, davon wussten. Auf den ersten Blick wirkte er schüchtern, fast zärtlich. Olga ist darauf reingefallen. Auch ich fand ihn toll. Am Anfang war es wie ein Rausch. Sie war wie im siebten Himmel. Endlich hatte sie jemanden gefunden, der sie vergötterte, der ihr zuhörte, der mit ihr lachte. Sie machten Pläne, wollten Kinder. Aber Dimitrij ist sehr eifersüchtig und – was anfangs keiner gesehen hatte – besitzergreifend. Es fing mit Kleinigkeiten an – ein Kinoabend mit ihren Freundinnen, der ihm nicht passte, ein Foto ihres ersten Freundes in ihrer Brieftasche, die Nachtschichten, die ihn störten. Olga erzählte mir davon und zog sich in ihre Wohnung zurück, die sie partout nicht aufgeben wollte. Später offenbarte sie mir, dass sie sich gar nicht zurückgezogen hatte, sondern von Dimitrij in seiner Wohnung festgehalten wurde. Wie ein Tier. Irgendwann wurde er gewalttätig. Zwar kam es nur alle paar Wochen zu einem Ausbruch, aber die Veilchen hätte ich nicht haben wollen. Olga kam zwei Mal mit geschwollenem Auge zu mir, ich hörte mir ihre Geschichten an und verarztete sie. Dimitrij sah ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Offenbar schien er allen aus dem Weg zu gehen, um sich nicht erklären zu müssen. Ich war es, die ihr riet, zu verschwinden, denn Dimitrij schien wie besessen. Olga hatte erzählt, dass er sie zum Schluss sogar ans Bett angebunden hatte.
Als sie dann tatsächlich verschwunden war, machte ich mir schreckliche Sorgen, auch weil Dimitrij plötzlich weg war. Vielleicht wusste er, wo sie steckte und war ihr gefolgt? Ich hatte das nicht sofort mitbekommen, weil ich Anfang August eine Woche bei meiner Tante in Chabarowsk war. Olga hatte mir dazu geraten. Ein paar Tage weg, das wäre doch mal etwas Besonderes. Ich hätte damals bemerken müssen, dass sie weg wollte. Sie hatte so ein sündhaft teures Kleid. Und bevor ich los bin zu meiner Tante, kam sie mit diesem Kleid rüber. Es war nicht irgendein Kleid, sondern eins von Prada. Olga hatte drei teure Kleider. Das war das schönste. ‚Hier Tanja, das ist für dich, mir ist es zu knapp geworden.‘ Das stimmte, sie hatte etwas zugelegt in den letzten Wochen, aber kein Grund, mir ihr bestes Stück zu schenken. Es war ihr Abschied, nur wusste ich nichts davon, ich verstand es erst viel später. Als ich wiederkam, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. Und dann kam diese SMS von ihr, sie sei weg. Ich bin sofort zu Dimitrij, aber auch er schien verschwunden zu sein. Ihn hatte ich ja ohnehin schon länger nicht gesehen. Ich habe das alles nicht verstanden. Er war kein Schlägertyp oder jemand, der zu tief in Glas guckt. Sonst hätte sich Olga nie darauf eingelassen. Sie hätte alle haben können. Wissen Sie, er hat hier an der Uni unterrichtet, war ein geachteter Forscher. Er hat Olga finanziell unterstützt, alles lief gut, aber irgendetwas hat ihn verrückt gemacht. Ich weiß nicht, was es war. Vielleicht, weil sie nicht schwanger wurde. Olga wollte zwar ein Kind, aber nicht jetzt, weil sie an einem wichtigen Projekt arbeitete, was sie erst abschließen wollte. Sie erzählte, dass er nicht locker ließ. Irgendwann war es kein Bitten und Drängen mehr, sondern Gewalt. Er hat es wieder und wieder versucht, aber Olga wurde einfach nicht schwanger. Ich riet ihr immer wieder, sich zu trennen, woanders hinzuziehen. Ich hatte ihr sogar angeboten mitzugehen, aber ich hatte keinen Erfolg. ‚Dimitrij ist mein Schicksal‘ hatte sie nur gesagt. Ich habe ihn seit Olgas Verschwinden auch nicht mehr gesehen.“
Es war schrecklich. Ich konnte ohnehin nie begreifen, wozu Männer fähig waren, aber dass nun ausgerechnet dort, wo ich wohnte, so ein Typ sein Unwesen hatte treiben müssen und keiner eingeschritten war, lähmte mich. Mir fiel auf, dass ich noch immer an die Tür gelehnt dastand. Ich hatte mich nicht einmal hingesetzt und trotzdem prasselte die volle Ladung auf mich ein. Das gestern schien