Nancy Aris

Dattans Erbe


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      „Jetzt habe ich Ihnen so viel von uns hier erzählt, Anna. Dabei habe ich ganz vergessen, Sie auszufragen, was Sie hierher verschlagen hat. Das holen wir nach, ganz bestimmt. Sie müssen unbedingt wieder zu mir kommen. Jetzt, wo Olga weg ist. Und bitte seien Sie nicht allzu besorgt. Hier wohnen ganz anständige Leute. Man muss sie nur zu nehmen wissen.“ Dann zeigte sie auf den Teller. „Und hier nehmen Sie die Pastete mit auf den Weg.“

      ‚Zu nehmen wissen‘ – ich kannte ihre Sprache nicht einmal richtig, wie sollte ich wissen, wie wer richtig zu nehmen war. Tatjana kam mir ganz recht. Sie könnte mich in die Hausregeln einweihen und mir erklären, wer welche Macke hatte. Wenn ich recht darüber nachdachte, fand ich es eigentlich ganz spannend. Ich war von meinem Heimatstern in ein mir fremdes Universum geknallt und bekam sogar eine Übersetzerin zur Seite gestellt. Alles würde sich fügen.

      „Vielleicht haben Sie am Wochenende Zeit und kommen zu mir zum Tee, Tatjana Petrowna? Da habe ich ein paar Tage, um die Wohnung etwas auf Vordermann zu bringen. Wissen Sie, ich würde die Wände gern streichen. Es sieht alles so alt und abgenutzt aus. Vielleicht finde ich irgendwo auch einen Schrank oder ein Regal. Ich möchte es etwas netter machen, habe nur keine Ahnung, wo hier ein Baumarkt in der Nähe ist. Vielleicht ist es Quatsch, den Aufwand zu betreiben. Und Geld kostet es auch. Aber eigentlich ist es schnell gemacht. Nur ein Tag und danach ist es sicher schöner und ich fühle mich wohler.“

      Tatjana sprang vom Stuhl auf und klatschte in die Hände, fast wie ein Kind.

      „Ich liebe streichen, das erinnert mich an meine Kindheit, als wir selbst gebastelte Zeitungshüte trugen. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Hier hat auch garantiert noch jemand die nötigen Utensilien. Das brauchen Sie nicht kaufen, völlig unnötig. Ich höre mich morgen mal um bei den Nachbarn. Und dann gehen wir mit Wolodja runter in den Keller. Wissen Sie, er ist so etwas wie ein Hausmeister, allerdings ein selbst ernannter. Früher wurde er von der Genossenschaft bezahlt, aber nachdem der Block privatisiert wurde, wollte man dafür kein Geld mehr ausgeben. Trotzdem kommen alle, wenn sie etwas zu reparieren haben oder was brauchen. Und er hilft, weil er es nicht anders kennt. Außerdem hat er Zeit, denn er ist Rentner. Dafür bekommt er von jedem etwas geschenkt: Kartoffeln von Irina, Fisch von Wadim und ich fülle ihm Formulare aus, wenn er Ärger mit den Ämtern hat.

      Immer wenn jemand auszieht und Möbel dalässt, schaut Wolodja, was noch zu gebrauchen ist. Dann schafft er das Zeug in seine Schatzkammer – im wahrsten Sinne ein Labyrinth. Sie müssen sich das unbedingt ansehen. Ganz hinten ist das Herzstück, seine Werkstatt, wo er Sachen repariert oder ausbessert. Oft sitzt er aber nur da und hört Radio oder löst Kreuzworträtsel. Wolodja hat mir viel geholfen, als ich eingezogen bin, Sie werden ihn mögen. Lassen Sie uns morgen zu ihm gehen, ich stelle Sie ihm vor.“

      Hier lief alles in Zeitraffer. Ich dachte daran, dass ich vor wenigen Stunden nicht einmal wusste, wo ich die Nacht verbringen sollte. Jetzt hatte ich eine Wohnung, eine nette Nachbarin, die offenbar der Schlüssel zu einem mir fremden Mikrokosmos war.

      Besser hätte es nicht sein können. Wenn da nicht die Geschichte mit Olga gewesen wäre. „Gern. Aber morgen habe ich zu arbeiten. Ich kann erst am Nachmittag, so gegen fünf.“

      „Sehr gut, klopfen Sie einfach bei mir, wenn Sie da sind. Rechts neben Wolodja. Ich bin zu Hause. Meist bin ich da, weil ich von zu Hause aus arbeite. Ich bin Übersetzerin.“

      Auch darüber hatten wir kein Wort gesprochen. Nachdem ich mich verabschiedet hatte, ging ich noch einmal in mein neues Domizil. Ich setzte mich aufs Fensterbrett und staunte über den Ausblick. Ja, ich hatte mich richtig entschieden und ich hatte Glück, denn das Hochhaus vor „unserem“ Block lag links von mir. Ich konnte aufs Meer blicken, aber meine Nachbarn fünfzig Meter weiter links schauten auf den Zwanziggeschosser. Wer kam nur auf so eine Idee?

      Dann fuhr ich zum Hotel. Im Bus dachte ich die ganze Zeit an Olga. Mir ging die Geschichte nicht aus dem Kopf. Eigentlich war es ja gar keine Geschichte, sondern nur Fragmente und Fetzen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob das, was Tatjana mir erzählt hatte, überhaupt stimmte.

      Marina saß immer noch an der Rezeption, offenbar im Dauerdienst rund um die Uhr. Kein Wunder, dass ihre Freundlichkeit irgendwann erschöpft war.

      „Und, wie finden Sie die Wohnung? Ist es nicht ein Schmuckstückchen? Ein richtiges kleines Liebesnest, nicht wahr?“

      Ich wunderte mich über ihre Offenherzigkeit, denn heute Morgen lautete die Anweisung noch strikt „im Hotel kein Wort!“.

      „Man könnte sicherlich Einiges daraus machen, der Ausblick ist toll“, antwortete ich nicht allzu diplomatisch. Ich hatte keine Lust auf das ewige Süßholzraspeln, bei dem jeder wusste, dass der andere ihm etwas vorlog und trotzdem mitmachte. Mir ging Olga nicht aus dem Kopf, darüber wollte ich mehr erfahren.

      „Wissen Sie, warum die Vormieterin ausgezogen ist? Kennen Sie sie vielleicht?“

      Marina schaute etwas erschrocken auf. Gleichzeitig überspielte sie ihre Unruhe mit einer etwas zu schnell ausgesprochenen Floskel. „Heute die, morgen jene. Wenn ich mir das alles merken wollte, bräuchte ich einen Elefantenkopf.“

      Ich wollte so schnell nicht aufgeben, denn heute Morgen hatte Marina erwähnt, dass Olga drei Jahre dort gewohnt hatte. Nichts Flüchtiges. „Olga, sie hieß Olga. Sie selbst haben mir doch in Ihrem Brief geschrieben, dass sie sehr lange dort gewohnt hat. Und jetzt wissen Sie plötzlich gar nichts von ihr?

      Marina schaute nach unten. Das alles war ihr furchtbar unangenehm. Das Gespräch war damit beendet.

      Eine Stunde später war ich wieder in meinem Block. Da ich nichts zu essen hatte, zog ich gleich wieder los. Kein zweites Mal wollte ich ohne Tee und Gebäck dastehen, wenn Tatjana käme. Gleich hinter unserem Haus gab es ein Lädchen, wo sich die Studenten mit Wodka, Zigaretten und den nötigsten Lebensmitteln eindeckten. Ich fand, was ich brauchte.

      Mir gefiel der weitläufige Campus der Meeres-Universität, überall junge Leute – die Studenten mit ihren Freundinnen, grüppchenweise Matrosen, mal in blauer, mal in weißer Uniform. Mein erster Tag fern der Borneckerschen Obhut ging langsam zu Ende und ich fand, dass er gar nicht schlecht verlaufen war.

      Die Lesesaalchefin schaute etwas desinteressiert von ihrem Buch auf. Offenbar hatte ich sie beim Lesen gestört.

      „Ihren Passierschein bitte! Und“, sie zeigte auf eine aufgeschlagene Kladde an der Seite ihres Tisches, „tragen Sie sich ins Benutzerbuch ein.“ Sie verschwand in den Hinterraum, holte meine Akten und legte sie genau auf den Tisch, an dem ich vorgestern gesessen hatte. Dann ging sie wieder zu ihrem Platz und sagte fast lautlos: „So dringend scheint es ja doch nicht zu sein …“

      Sollte ich darauf reagieren? War sie im Selbstgespräch? Wer wollte dabei schon ertappt werden? Natürlich war es kein Selbstgespräch, sondern ein Seitenhieb, weil ich gestern nicht da war. Ich musste was sagen, denn ich wollte nicht als faul oder unzuverlässig dastehen.

      „Ich musste mich gestern um eine Unterkunft kümmern. Das hat sich hingezogen. Tut mir leid.“

      Ljudmila saß mittlerweile wieder hinter ihrem Buch und schaute nur kurz auf. Ihr Blick galt jedoch nicht mir, sondern einem imaginären Punkt neben der Eingangstür. Diese gespielte Ignoranz … Ich wusste ganz genau, dass sie zu gern wüsste, was die Neue aus Deutschland zu berichten hatte. Aber auch ich konnte ignorant sein. Also setzte ich mich wortlos an meinen Tisch und begann zu blättern. Die Akten nahmen mich mit in eine andere Welt. Allein das steife Papier, die aufwendigen Briefbögen und die verschnörkelte, mit Federkiel zu Papier gebrachte Schrift, begeisterten mich. Man sah, dass dieser Art Korrespondenz eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde. Trotzdem war es kompliziert, das alles zu entziffern. Ich war langsam, verstand fast nichts. Erst nach und nach fuchste ich mich ein. Und obwohl ich kaum etwas fand, das mich weiterbrachte, durchblätterte ich mit Vergnügen einen Folianten nach dem anderen. Notizen machte ich kaum welche. So saß ich bis zum Nachmittag da. Nur einmal ließ ich mir ein Findbuch geben, um neue Akten zu bestellen. Mir dämmerte, dass ich auf diese Weise das Tagebuch