Phuket, angeschwemmt worden waren. Der Polizeichef der südthailändischen Provinz Phang Na wurde mit der Vermutung zitiert, dass es weit draußen auf hoher See ein Schiffsunglück gegeben haben musste. Möglicherweise eine Havarie durch einen technischen Defekt oder eine Explosion. So etwas käme schon ein paarmal im Jahr vor. Aber, so ließ der Polizeioffizier beruhigend wissen, zur Sorge bestehe keinerlei Veranlassung, unter den geborgenen Leichen befänden sich keine Touristen.
William rollte die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb. Thailands Strände und die Metropole Bangkok erschienen ihm mit einem Mal so unendlich weit entfernt. Und auch das Gefühl der letzten Umarmung von Penelope verkroch sich in eine dunkle Ecke der Erinnerung. William schob den Salat beiseite und schaltete den Fernsehapparat ein. Es gab mehrere englischsprachige Kanäle, durch die er sich ohne Interesse zappte. Schließlich blieb er bei einem deutschen Sender hängen, auf dem lokale Nachrichten liefen. Eine Sprecherin trug das Neueste aus der Rhein-Neckar-Region vor. William machte es sich auf der Couch bequem und ließ den Klang der deutschen Sprache auf sich wirken. Die Frau auf dem Bildschirm sprach mit einer Melodie, die der seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich war. Die gelegentlichen harten Wortkanten, die im Rachenraum kehlig geformten Silben, die singenden Zischlaute, das alles führte William in seine Kindheit zurück, in eine Zeit, in der er nach dem Verschwinden seines Vaters verunsichert und hilflos mit seiner alkoholkranken Mutter verbunden war. William wischte diese schmerzhaften Erinnerungen beiseite und versuchte sich auf den Inhalt der Nachrichten zu konzentrieren. Es waren nicht die Meldungen aus der großen, weiten Welt, die viele Zuschauer interessierten, aber keinen wirklich betrafen. Die Nachrichten dieses Senders beschäftigten sich vielmehr mit handfesten Ereignissen aus der Gegend, wo der Neckar in den Rhein mündete. Die Topmeldung des Tages handelte von einem beliebten und volksnahen Lokalpolitiker, der in betrunkenem Zustand einen Sachschaden in Höhe von mehreren Zehntausend Euro verursacht hatte. Der Mann war in den frühen Morgenstunden mit seinem Fahrzeug auf eine Schaltzentrale der innerstädtischen Ampelsteuerung geprallt, deren Ausfall den morgendlichen Berufsverkehr Heidelbergs lahmgelegt hatte. Übernächtigt und voller Demut entschuldigte sich der Politiker vor der Kamera bei seinem Wahlvolk. So etwas sei ihm bisher noch nie passiert und er gelobte nachhaltige Besserung. William war überrascht, wie mühelos er das Vorgetragene verstand, und vermutete, dass es wohl nicht allzu lange dauern dürfte, bis er seine Deutschkenntnisse auch in anspruchsvolleren Konversationen würde anwenden können.
William erhob sich und wandte sich zum Badezimmer, da setzte die Sprecherin mit der nächsten Meldung fort. Es ging um eine Leiche, die in einem Weinberg am Ortsrand von Rebheim entdeckt worden war. Hätte er noch nie von diesem Ort gehört, wäre die Meldung sicherlich in seiner allmählich einsetzenden Schläfrigkeit untergegangen. William kehrte zum Sofa zurück.
„Bei dem Leichnam handelt es sich um eine männliche Person aus dem asiatischen Raum“, verriet die Sprecherin. „Nach Einschätzung unserer Reporter vor Ort verfolgt die Polizei noch keine konkreten Spuren. Ein Sprecher der Kriminalpolizei kündigte für die nächsten Tage eine Pressekonferenz an. Natürlich wird Sie Badenia-TV, Ihr Regionalsender mit Herz, auch in diesem mysteriösen Todesfall auf dem Laufenden halten!“
Eine Leiche in Rebheim! Der Tote ein Asiate? Ein eigenartiger Zufall, dachte William und überlegte, ob er früher als geplant den Heimatort seiner Mutter besuchen sollte.
9
Geräuschlos öffnete sich die Tür und ein Mann schlüpfte in den Gewölbekeller. Suwannee presste ihren Körper an die kalte Fliesenwand. Die Erschöpfung, die ihr Gehirn zunehmend lähmte, war mit einem Schlag verflogen. Sie spürte, wie die Fesseln in ihre Haut schnitten und der verklebte Mundknebel bei jeder noch so kleinen Bewegung an ihrer Gesichtshaut zerrte.
Der Mann schloss die Tür und wandte sich seiner Gefangenen zu. Suwannee erschrak. Sein Gesicht war hinter einer Maske versteckt. Die eingefrorene, grinsende Mimik des grellbunten Plastikmaterials wirkte gespenstisch und passte weder zur Gestalt des Trägers noch zu seiner Bekleidung. Der Mann war groß, seine Füße steckten in weißen Gummistiefeln und seinen Körper verhüllte ein weiter, gleichermaßen weißer Arbeitskittel. Eine Haube verbarg sein Haar und er trug Gummihandschuhe. Das schaurige Arrangement, die Maske ausgenommen, ähnelte der Berufskleidung von Akkordschlächtern in einer Fleischfabrik. In Suwannees Gehirn rasten die Eindrücke durcheinander und blockierten jeden einigermaßen vernünftigen Gedanken. Immerhin war ihr eingefallen, wen die Maske parodieren sollte. Es war die deutsche „Wir-schaffen-das“-Bundeskanzlerin, was dem Ganzen eine verrückte Note verlieh.
„Guten Tag, Suwannee. Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen.“ Der Mann sprach in ein winziges Mikrofon, das an seinem Kragen befestigt war und in Verbindung mit einem elektronischen Verstärker in seiner Kitteltasche stand. Durch das Gerät wurde seine Stimme unnatürlich verzerrt und zusätzlich immer wieder in ihrer Tonlage verändert.
„Ist dir kalt? Ich schalte gerne den Heizlüfter an“, bot der Mann an und trat ein paar Schritte näher an die Matratze heran, auf der Suwannee zusammengeschnürt lag.
„Die Fesseln können wir ein wenig lockern, wenn du nichts dagegen hast. Und sobald wir uns einig sind, wie es weitergeht, werde ich auch das Klebeband entfernen. Dann kannst du essen, trinken und Zähne putzen. Zugegeben, das ist kein Fünf-Sterne-Niveau, aber du sollst dich wie ein Gast fühlen.“
Der Mann kniete sich hinunter und entspannte die Beinfesselung, sodass Suwannee ihre Unterschenkel ein wenig ausstrecken konnte. „Ich habe gelesen, dass Thailänder gewöhnlich fünfmal am Tag essen. So kann ich dich natürlich nicht verwöhnen. Aber ich garantiere dir, dass du nicht verhungern wirst. Ich bin kein Unmensch und dein Wohlbefinden ist mir viel wert.“
Mit einem kurzen harten Ruck entfernte er die Verankerung des Klebebands in Suwannees Nacken. „Das fühlt sich doch schon viel besser an, nicht wahr? Jetzt kannst du nicken und den Kopf schütteln. Das sollte erst einmal für unsere Konversation reichen. Hast du verstanden?“
Suwannee nickte mit aufgerissenen Augen.
„Du wirst dich fragen, was das alles soll. Das Prinzip unserer Zusammenarbeit ist folgendes: Dir wird es gut gehen, wenn es mir gut geht. Natürlich gilt auch der Umkehrschluss: Wenn es mir schlecht geht, wird es sich nicht vermeiden lassen, dass auch du leiden wirst. Du verstehst mich doch?“
Wieder nickte Suwannee.
„Du kannst nichts dafür, dass du einen reichen Vater hast. Ich gönne dir dein sorgenfreies Leben. Ich vermute, du weißt nicht einmal genau, wie viel Geld deine Familie besitzt. Dein Vater wird es auch nicht wissen. Das ist ein Problem vieler reicher Menschen, andererseits vielleicht aber auch ein Vorteil.“ Der Mann fixierte durch die Augenschlitze seine Gefangene. Ihr Frösteln hatte sich verringert, seit die warme Luft aus dem elektrischen Lüfter strömte.
„Würde es Daddy tatsächlich bemerken, wenn ihm dreißig Millionen fehlen? Dollar oder Euro, das spielt zunächst keine Rolle. Die Details klären wir später. Ich wette, der Verlust einer solchen Summe bereitet ihm keine allzu großen Kopfschmerzen. Der Preis für das Leben seiner einzigen Tochter ist geradezu lächerlich. Was meinst du, bist du deinem Vater dreißig Millionen wert?“
Suwannee hatte den Kopf gesenkt. Der Mann konnte keine Reaktion auf seine Frage feststellen, woraufhin auch er schwieg. Er zog sich den Metallstuhl heran, setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf die pinkfarbene Polsterung und wartete. Das Frischluftgebläse verstummte, das Pendeln der nackten Glühbirne verebbte und die Minuten verstrichen.
„Suwannee, wir spielen hier kein Spiel“, brach der Mann endlich sein Schweigen. „Ich rate dir, nicht die beleidigte Prinzessin zu geben. Das könnte böse enden. Wenn ich dich etwas frage, schaust du mich an und antwortest mir. Ist das klar?“
Suwannee drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. Der Mann ließ sich langsam von dem Stuhl auf den Boden gleiten und rutschte auf den Knien dicht zu seiner Gefangenen. Suwannee spürte, wie sich die Distanz zwischen ihnen immer weiter verringerte. Sie konnte ihn bereits riechen. Kurz darauf traf sie eine im Gummihandschuh steckende, flache Hand klatschend auf die Wange. Das Klebeband vor dem Mund verwandelt ihren Schrei in ein dumpfes Grunzen.