Darin hatte sie sich über Rieders Unentschiedenheit beklagt. Er hatte den Brief von Malte Fittkau erst im Januar nach seiner Rückkehr auf die Insel erhalten. Geantwortet hatte er ihr nicht. Dazu fühlte er sich zu schuldig, denn er hatte Charlotte auch noch mit seiner Kollegin Nelly Blohm betrogen. Sollte er ihr das schreiben? Vor sich selbst rechtfertigte er seinen Fehltritt als harmlosen One-Night-Stand. Aber warum feuerten jetzt so seine Wangen und wurden seine Hände feucht? Symptome des schlechten Gewissens? Rieder drehte sich noch einmal nach dem „Strandcafé“ um. Er hielt kurz inne. Hatte sich dort nicht gerade die Gardine bewegt? Bevor er genauer hinsehen konnte, wurde er heftig durchgeschüttelt. Damp war nach rechts auf den alten Deich eingebogen. Der Steindamm war von riesigen Betonfugen durchzogen. Ein Härtetest für jeden Stoßdämpfer. Rieder musste leicht den Mund öffnen. Sonst hätten seine Zähne angefangen zu klappern.
Gudrun Witt stand mit verschränkten Armen mitten auf dem Deich. Um sich vor dem Wind zu schützen, hatte sie die Kapuze ihrer Wetterjacke über den Kopf gestülpt. Rieder erkannte in der kleinen stämmigen Frau die Köchin aus dem „Strandcafé“. Sie war berühmt für ihren gebratenen Dorsch und ihre Matjesfilets. Selbst Insulaner, die selten in ein Restaurant gingen, waren extra wegen Gudruns Kochkünsten ins „Strandcafé“ gekommen. In seiner Zeit auf der Insel hatte Rieder fast alle Gaststätten auf der Insel mit Charlotte getestet. Sie nannte das ,Feindbeobachtung‘. Danach hatte sie mit Gudrun beraten, mit welchen Gerichten man der Konkurrenz Paroli bieten konnte.
„Guten Tag, Gudrun“, begrüßte Rieder die Frau. „Lange nicht gesehen.“
Gudrun erwiderte den Gruß nicht. „Wird Zeit, dass ihr endlich kommt. Ich erfriere vor Kälte.“ Dann deutete sie mit dem Kopf zur Boddenseite. „Da liegt er.“
Die beiden Polizisten blickten nach unten. Möselbeck kam dazu. Es waren nur die Füße des Toten zu sehen. Sonst war der Körper mit einer schmutzig weißen Plastikplane zugedeckt. Neben der Leiche lehnte ein Fahrrad am Fuße des Deichs. Etwas weiter weg war eine Staffelei aufgestellt, daneben ein Holzkasten. Dahinter befand sich ein Fahrradanhänger mit einer Abdeckung.
„Ich hol’ mal den Einsatzkoffer“, erklärte Rieder und ging zum Heck des Wagens. Er war schon dabei, als Damp hinter ihm her stürzte und rief: „Der Koffer liegt auf dem Rücksitz.“
Aber Rieder hatte schon die Klappe des Kombis geöffnet. „Was ist das?“, fragte er erstaunt. Im Kofferraum standen mehrere Eimer Wandfarbe, einige Pinsel sowie allerlei weiteres Malerzubehör. Außerdem ein Eimer mit zahlreichen Putzmitteln.
„Das geht Sie nichts an!“, blaffte Damp und versuchte die Klappe wieder zu schließen.
„Wollen Sie renovieren?“, hakte Rieder neugierig nach.
„Und wenn?“
„Schon gut“, versuchte Rieder die Situation zu entspannen. Er ging zur hinteren Tür des Wagens und zog den Koffer heraus. „Wollen wir dann mal nach unten gehen?“
Damp schüttelte den Kopf, offenbar immer noch wütend. „Ich bleibe hier oben und schau mich mal um. Außerdem muss auch einer mit Frau Witt reden.“
„Was war denn mit Damp los?“, fragte der Inselarzt, als er mit Rieder über die glatten Steine des Deichs hinunter zum Ufer kletterte.
„Keine Ahnung“, erwiderte der Polizist. „Er ist momentan etwas merkwürdig. Mal total aufgekratzt, dann wieder wütend. Ich frage mich, warum er renovieren will.“
„Hat das noch mit Ihrem Undercover-Einsatz im Winter zu tun? Ist er immer noch beleidigt, dass Sie ihn damals nicht informiert haben?“
Rieder zuckte mit den Schultern. „Sicher war das von mir nicht ganz sauber, aber … ach, was soll ich sagen … vielleicht, vielleicht auch nicht. Lassen wir das und kümmern uns um unseren Kunden hier.“
Er machte ein paar Fotos von der abgedeckten Leiche und der Umgebung. Die Steine des Bollwerks waren mit einer leichten Teerschicht überzogen. Was Rieder wunderte: dass auf der Staffelei kein Bild stand. In der Holzkiste befanden sich Pinsel, Farben, ein gefülltes Wasserglas, Farbpaletten. Rieder stellte sich vor die Staffelei und hielt nach einem Motiv Ausschau. „Was kann man hier malen wollen? Was ist das Motiv für einen Maler?“
Auch Möselbeck schaute sich um. „Schaprode ist definitiv zu weit weg.“ Der Arzt deutete über den Bodden nach Rügen, zu dem kleinen Dorf, von dem die Fähren nach Hiddensee ablegten. „Da sieht man kaum noch den Kirchturm.“
„Das Schilf ist nun auch nicht besonders attraktiv. Von dem alten Deich ganz zu schweigen“, bemerkte Rieder.
Dann hoben sie vorsichtig die Plane nach oben, um keine Spuren auf dem Körper des Toten zu verwischen. „Das ist ja der olle Kempe!“, rief Möselbeck aus.
Jetzt erkannte auch Rieder den Toten. „Ich habe ihn gestern noch gesehen. Nach dem Leichenschmaus für Gilde. In Kloster am ‚Hitthim‘. Da war er noch ganz munter.“ Als er sich den Toten näher anschaute, erinnerte sich Rieder, dass er Kempe früher öfter auch im Strandcafé gesehen hatte. „Ich glaube, der hat er immer mal bei Charlotte an der Theke gesessen mit Bier und Korn.“
Möselbeck nickte. „Das kann ich mir vorstellen. Er war kein Kostverächter, wenn’s ums Trinken ging. Seine Leber fand das nicht so gut. Sein Herz auch nicht. Die typische Künstlerkrankheit. Er war ja auch schon über achtzig. Vielleicht war es einfach zu viel für ihn. Erst trinken, dann mit dem Rad hier runter. Da kann das Herz schnell mal schlapp machen. Hier hängen nicht wie in Berlin an jeder Ecke Defibrillatoren.“
Rieder machte noch ein paar Aufnahmen. Die Gesichtszüge des Toten wirkten entspannt, als sei er friedlich eingeschlafen. „Also ein ganz natürlicher Tod“, stellte Rieder fest.
„Mal sehen“, verkündete Möselbeck, zog ein paar Latexhandschuhe über und hockte sich hin. Er begann mit der äußeren Leichenschau, bewegte Arme und Beine. „Die Leichenstarre ist schon voll ausgeprägt“, verkündete der Arzt. „Wenn man die kalte Nacht berücksichtigt, ist er so zwischen zwölf und vierzehn Stunden tot.“ Möselbeck schaute kurz auf die Uhr. Es war jetzt kurz nach zehn. „Ich würde den Todeszeitpunkt auf gestern Abend zwischen 20 und 22 Uhr eingrenzen.“
„Da war es doch schon dunkel. Wie soll er ohne Tageslicht noch gemalt haben?“, wunderte sich Rieder.
Möselbeck öffnete die Kleidung des Toten, um nach Wunden zu suchen. Als er Kempes Kopf anhob, stutzte er. Darunter hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. „Sehen Sie mal.“ Rieder kniete sich neben den Arzt. Möselbeck war schon dabei den Kopf des Toten zu drehen. Am Hinterkopf klaffte eine tiefe Wunde. Es war ein richtiges Loch. Der Arzt sah sich um, schaute sich den Boden genauer an. „Diese Wunde passt nicht zu der Fläche hier. Hier ragt nichts Spitzes aus dem Boden. Der Teerüberzug über den Steinen ist völlig glatt. Er muss von hinten erschlagen worden. Vielleicht mit einem Stein.“
Damp hatte seinen Notizblock aus der Brusttasche gezogen. „Also, Gudrun, nur mal fürs Protokoll. Wann hast du den Toten gefunden?“
Gudrun Witt stand immer noch mit verschränkten Armen. „Na, kurz bevor ich dich angerufen habe.“
„Geht es etwas genauer?“
„So gegen halb zehn. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.“
„Hm“, brummte Damp. „Und kennst du den Toten?“
Gudrun schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wer das ist.“
Rieder war wieder auf die Deichkrone geklettert und zog Damp ein Stück zur Seite. Er flüsterte seinem Kollegen zu, was Möselbeck entdeckt hatte. „Also Mord!“, rief Damp aus. „So ein Mist! Und es ist der alte Kempe?“
Genau das hatte Rieder vermeiden wollen. „Wenn Sie weiter so brüllen, können wir gleich einen Aushang am Rathaus machen.“
Aber Gudrun hatte genug gehört. Sie schlug die Hand vor den Mund. Damp straffte seine Uniform und ging wieder zu ihr.
„Willst du mich eigentlich für dumm verkaufen? Du willst den alten Kempe nicht erkannt haben?“