Tim Herden

Schwarzer Peter


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flach, dass es ihm nicht mal bis zu den Knien reichte. Langsam stapfte er los. Seine Füße durchschnitten das Wasser. Trotz der Wathose kroch die Kälte des Wassers langsam an den Beinen empor. Rieder schaute sich um und achtete dabei nicht, wohin er gerade trat. Sein Fuß erwischte einen Stein, rutschte ab. Er wedelte mit den Armen und konnte nur durch hektisches Springen von einem Bein auf das andere das Gleichgewicht halten. Wasserspritzer durchnässten sein Hemd. Rieder fluchte. Vom Ufer hallte lautes Lachen. Rieder schaute ins Wasser. Der Stein war der einzige weit und breit. Sonst war hier nur Schlick und Sand. Er griff in das kalte Wasser und holte einen quadratischen roten Backstein heraus. Rieder erinnerte sich, neben der Staffelei eine Lücke in der Kaikante unbewusst wahrgenommen zu haben, als er den Fundort der Leiche inspiziert hatte. Er betrachtete den nassen Stein, drehte ihn zwischen seinen Händen hin und her. Langsam ging er zurück zum Ufer. Seine Kollegen spendeten übertrieben Beifall.

      „Echt super Fund!“, rief ihm Holm Behm zu. Doch Rieder ließ sich nicht beirren. Er ging zum Kai und drückte den Stein in den Spalt in der Kaimauer neben der Staffelei. Er passte wie angegossen. „Das könnte die Mordwaffe sein“, erklärte er. Holm Behm kam näher und kniete sich hin. „Kann schon sein. Aber Spuren kannste vergessen. Das Salzwasser hat den Stein saubergewaschen. Höchstens das Spurenbild am Kopf des Opfers kann beweisen, dass er mit dem Stein erschlagen wurde.“ Der Spurensicherer sah das enttäuschte Gesicht Rieders. „Naja, besser als nichts“, tröstete ihn Behm, löste dann den Stein wieder aus der Lücke und legte ihn zu den anderen Fundstücken. Rieder war wieder losgelaufen, aber auf dem Grund des ehemaligen Hafenbeckens fand sich nichts mehr. Er lief nun auf den rechten Schilfstreifen zu. Ein paar Blässhühner flogen schreiend auf. Zwischen den Schilfpflanzen entdeckte Rieder eine Plastikfolie. Sie hatte sich um ein einige Stängel gewickelt. Offenbar war sie vom Wind hierhingeweht worden. Sie wies ein paar bunte Flecken auf. Rieder hob sie vorsichtig an und trug sie wie eine Trophäe zum Ufer. Er zeigte Behm und Damp die Farbspuren. „Das ist schon besser“, meinte Behm anerkennend. Er winkte seinen Assistenten Sascha heran. Gemeinsam rollten sie die Plane in eine spezielle Folie. Aber das Bild dazu blieb verschwunden.

      Wenig später saß Rieder beim Neuendorfer Hafenmeister Franz Plewe. Da die Gaststätten in Neuendorf noch nicht geöffnet hatten, war es der einzige Ort, wo sich der Polizist aufwärmen konnte. Plewe hatte Tee gekocht und einen Eimer mit heißem Wasser gefüllt. Rieder ließ seine Füße hineingleiten. Langsam kamen die Lebensgeister zurück. Sein Hemd hing über einem Stuhl, der vor einem bullernden Kanonenofen stand. Plewe warf alle paar Minuten ein Holzscheit hinein. Das Feuer loderte dann richtig auf. „Das ist der Teer“, bemerkte Plewe. „Die alten Reusenstangen sind ja alle noch geteert. Das brennt wie Zunder.“

      Rieder wollte besser nicht über den Brandschutz nachdenken. Er war von Malte gewohnt, dass die Hiddenseer mit allem heizten, was irgendwie brannte. Rieder war froh, nicht mehr zu frieren. Plewe hatte dafür gesorgt, dass Behm und sein Assistent Sascha mit einem der flachen Fischerkähne auf den Bodden rausgefahren waren, um weiter nach dem Bild zu suchen. „So viel Wind war ja nun auch nicht. Also wenn da noch was ist, dann ist es auch noch da“, hatte Plewe verkündet. „Das dauert, bis so was bis nach Rügen getrieben ist.“ Damp hatte sich abgeseilt, um seine Farbe nach Hause zu bringen. Danach wollte er seine Kollegen wieder einsammeln, um zu Kempes Haus in der Dünenheide zu fahren. Wie erwartet, wusste er, wo es war.

      „Kannten Sie den Kempe?“, fragte Rieder, während er seine Füße trockenrubbelte.

      Plewe ließ sich mit der Antwort Zeit, stopfte seine Pfeife und starrte aus dem Fenster auf den Neuendorfer Hafen. „Was heißt schon kennen“, sagte er wie nebenbei. Er steckte seine Pfeife in den Mund und kramte in seiner alten schwarzen Cordjacke nach Streichhölzern. Genüsslich setzte er den Tabak in Brand. Er machte zwei, drei Züge, und sofort erfüllte das einzige Zimmer aromatischer Geruch. „Prestige Vanille, noch gute alte DDR-Ware“, meinte der Hafenmeister als er sah, wie Rieder schnupperte. „Rauche ich seit meinen Lehrlingsjahren auf ‚Vit 46‘, Ende der sechziger Jahre.“

      „Gibt’s denn den Tabak noch?“

      Plewe nickte. „Hier, im Konsum. Die haben für mich immer einen Vorrat.“

      Rieder wollte weniger über Pfeifentabak plaudern, sondern mehr über Hans Kempe erfahren. Aber bei den Hiddenseern war es nicht klug, zu drängen. Man musste Geduld haben. Geduld brachte Vertrauen. Ohne Vertrauen biss man bei den Insulanern auf Granit. Plewe schaute noch immer auf den Hafen und rauchte seine Pfeife. Es schien, als habe er Rieders Frage vergessen. Doch plötzlich nahm er die Pfeife aus dem Mund, formte die Lippen zu einem Kreis und blies den Rauch in kleinen Ringen in die Luft. Sie schwebten durch den Raum wie Seifenblasen, bevor sie sich langsam auflösten. Rieder schenkte Plewe den erwarteten bewundernden Blick. „Also Kempe war schon ein komischer Kauz“, bedankte sich der Hafenmeister für Rieders stillen Beifall und seine Geduld. „Wissen Sie, früher, in den alten Zeiten, da kam der immer mal, wollte mit uns rausfahren, sehen, wie wir arbeiten. Da hat er immer Fotos gemacht.“ Plewe nahm wieder einen Zug, stopfte die Pfeife nach. „Die waren Vorlagen für seine hübschen Bilder. Wie sie so gewünscht waren. Kennen Sie die?“

      Rieder schüttelte den Kopf. „Ach bestimmt, aus dem Malunterricht in der Schule. Sie sind doch von hier.“ Rieder nickte. Plewe begann leicht zu lächeln. Die Erinnerung schien ihn zu erheitern. „Die Fischer kämpfen um den Fisch und natürlich für den Sozialismus. Da drüben“, Plewe deutete mit seiner Pfeife auf den Schuppen der Fischereigenossenschaft auf der anderen Seite des Neuendorfer Hafenbeckens, „da mussten wir uns mal alle hinsetzen. Wir mussten so tun, als wenn wir Netze flicken würden, und einer saß davor und las in der Zeitung. ‚Fischer studieren die Beschlüsse der Partei‘, hat er das genannt.“ Plewe lachte auf. „Das hat in Stralsund gehangen, im Kultursaal der Gewerkschaft. Wir waren doch alle im FDGB. Alle anderen Fischer von Rügen und selbst die aus Vitte haben sich schiefgelacht über uns. Die wussten doch alle, dass wir die Zeitung nur zum Einwickeln der Fische nehmen. Nun ist das Bild weg, und Hiddenseer Fischer gibt’s bald auch nicht mehr.“ Plewe widmete sich wieder seiner Pfeife.

      „Aber das ist ja schon einige Zeit her“, flocht Rieder vorsichtig ein, um das Gespräch in Gang zu halten.

      Plewe nickte stumm. „Nach der Wende hat er umgesattelt. Statt sozialistischem Realismus gab’s nun Hiddenseer Idylle. Du musst mal zum Eckardt rübergehen, vom ‚Haus am Strand‘. Der hat Kempe immer seinen Zaun als Schaufenster geborgt. Gezahlt hat er dafür wahrscheinlich nichts. Der war ja ein knuckriger Zeitgenosse. Und da hing dann der Leuchtturm Gellen mit Strand. Leuchtturm Gellen zwischen den Strandkiefern. Hafen Neuendorf mit Schiffen. Hafen Neuendorf ohne Schiffe. Seglerhafen. Schabernack.“ Plewe schob seine Mütze in den Nacken. „Das war eine richtige Serienproduktion. Aber die Geschäfte liefen nicht so gut. Hier kommen zu wenige Touristen vorbei. Wer hier in Neuendorf wohnt, ist sowieso eine besondere Urlaubersorte. Der hat die Insel im Herzen. Der braucht keine Bilder.“

      Rieder hatte den alten Hotelier Eckardt bei seinem ersten Fall auf der Insel kennengelernt. Bei ihm hatte ein Kunsthistoriker Quartier genommen, der am Gellenstrand ermordet worden war. Das war bald ein Jahr her. Seitdem hatte er Eckardt nicht wieder getroffen. „Wie geht es Herrn Eckardt?“, fragte Rieder.

      Plewe wiegte den Kopf hin und her. „Man sieht ihn kaum noch. Man wird ja nicht jünger. Seinen kleinen Nebenerwerb habt ihr ihm ja genommen.“ Eckardt hatte seine Zimmer immer noch vermietet. Natürlich schwarz. Durch den toten Kunsthistoriker war die Sache aufgeflogen. Auch wenn Rieder es nicht beweisen konnte, hatte wahrscheinlich Damp dem Finanzamt einen Tipp gegeben.

      Die Pfeife war aufgeraucht. Plewe klopfte sie an seinem Stiefel aus und kratzte die Asche aus dem Pfeifenkopf. „In den letzten Jahren hat er das auch nicht mehr gemacht mit der Sommergalerie. Ich frage mich, wovon der Kempe gelebt hat.“

      „Haben Sie ihn mal mit dem Herrn Gilde gesehen?“

      „Mit Suppen-Gilde? Unserem großen Inselgönner? Der uns jetzt ein Museum schenkt?“

      Rieder war kurz irritiert. Von einem Museum hatten weder die Witwe noch der Sohn Gildes erzählt. „Welches Museum?“

      Plewe drehte sich zu seinem Tisch. Dort lagen ein paar alte Ausgaben der „Ostsee-Zeitung“. Er sah eine nach der anderen