Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder


Скачать книгу

dich jetzt wie ein Mann.« Er befreite seine Finger, und Ben stand da und starrte gequält zu ihm hoch. Sein Vater wuschelte ihm durch die kurzen Haare. »Ich bring dir ein Stück davon mit, okay, Tiger?«

      »Bleib hier«, krächzte der weinende Tiger.

      Sein Vater wandte ihm den Rücken zu und ging zur Verandatür hinaus, hinter der Donny Blaylock wartete. Ich stand immer noch mit Mrs. Sears im Vorgarten und beobachtete den Feuerball auf seinen letzten Sekunden im Fall.

      »Sim, tu das nicht«, sagte Mrs. Sears, aber ihre Stimme war so schwach, dass sie ihn nicht erreichte. Mr. Sears sagte nichts zu seiner Frau; er folgte dem anderen Mann zu einem dunkelblauen Chevy, der am Straßenrand geparkt war. Von der Radioantenne baumelten rote Schaumstoffwürfel und rechts war das Heck verbeult. Donny Blaylock glitt hinter das Lenkrad und Mr. Sears stieg auf der Beifahrerseite ein. Der Chevy setzte sich mit schwarzem Rauch aus dem Auspuff wie von einem Kanonenschlag in Bewegung. Als das Auto losfuhr, hörte ich Mr. Sears wie bei seinen Priesterwitzen lachen. Donny Blaylock musste das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten haben, denn die Hinterreifen quietschten auf, als der Chevy die Deerman Street hinaufraste.

      Ich warf wieder einen Blick gen Westen und sah das Feuerding in den bewaldeten Hügeln verschwinden. Das Glühen pulsierte in der Dunkelheit wie ein schlagendes Herz. Es musste irgendwo in der Wildnis auf die Erde gefallen sein.

      Sand gab es dort draußen nirgendwo. Die Marsmenschen würden sich durch jede Menge Schlamm und Wasserpflanzen kämpfen müssen.

      Ich hörte die Tür knallen, und als ich mich umdrehte, sah ich Ben auf der Veranda stehen. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und starrte die Deerman Street hinauf, als würde er dem Chevy hinterhergucken, aber das Auto war inzwischen längst nach rechts auf die Shantuck Street abgebogen und nicht mehr zu sehen.

      In der Ferne, vermutlich in Bruton, heulten immer noch die Hunde. Mrs. Sears stieß einen langen kraftlosen Seufzer aus. »Lasst uns reingehen«, sagte sie.

      Bens Augen waren geschwollen, aber mit dem Weinen war er fertig. Keiner von uns schien die Scrabblepartie zu Ende spielen zu wollen. »Warum geht ihr nicht in deinem Zimmer spielen, Ben?«, sagte Mrs. Sears, und er nickte langsam. Seine Augen waren glasig, als hätte er einen gewaltsamen Schlag auf den Kopf verpasst bekommen. Mrs. Sears ging in die Küche zurück, wo sie den Wasserhahn anmachte. In Bens Zimmer setzte ich mich neben den Zivilkriegsbildern auf den Boden, während Ben vor dem Fenster stehenblieb.

      Ich konnte sehen, dass er sich quälte. Ich hatte ihn noch nie so erlebt und musste irgendetwas sagen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich zu ihm. »Das sind keine Marsmännchen. Das war ein Meteor, mehr nicht.«

      Er antwortete nicht.

      »Ein Meteor ist bloß ein großer, heißer Stein«, sagte ich. »Da sind keine Marsbewohner drin.«

      Ben schwieg; seine Gedanken hielten ihn gefangen.

      »Deinem Dad wird nichts passieren.«

      »Er wird anders sein, wenn er wiederkommt«, gab Ben mit einer schrecklich leisen Stimme von sich.

      »Nein, wird er nicht. Hör mal … das war doch nur ein Film. Das war alles ausgedacht.« Als ich das sagte, merkte ich, wie ich etwas losließ, und das fühlte sich gleichzeitig schmerzhaft und gut an. »Schau mal, es gibt doch in echt keine Maschine, die den Leuten in den Nacken schneidet. Es gibt keinen großen Marsmenschenkopf in ‘ner Glasschale. Das ist alles erfunden. Du musst keine Angst haben. Verstehst du?«

      »Er wird anders sein, wenn er wiederkommt«, wiederholte Ben.

      Ich tat, was ich konnte, aber nichts, das ich sagte, brachte ihn von dieser Überzeugung ab. Mrs. Sears kam ins Zimmer und ihre Augen sahen ebenfalls geschwollen aus. Aber sie brachte ein tapferes Lächeln zustande, das mir ins Herz schnitt. »Cory?«, fragte sie. »Willst du zuerst ins Badezimmer?«

      Um zweiundzwanzig Uhr, als Mrs. Sears in Bens Zimmer das Licht ausmachte, war ihr Mann noch immer nicht zurück. Ich lag neben Ben unter dem kühlen weißen Laken und horchte in die Nacht. Ein paar Hunde unterhielten sich immer noch und ab und zu gab Tumper seine Meinung dazu ab. »Ben?«, flüstere ich. »Bist du wach?« Er antwortete nicht, aber sein Atemrhythmus verriet mir, dass er nicht schlief. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Okay?«

      Er drehte sich um und drückte sein Gesicht ins Kissen.

      Irgendwann schlief ich ein. Überraschenderweise träumte ich nicht von Marsbewohnern und x-förmigen Wunden am Hals von meiner Familie und meinen Freunden. In meinem Traum sah ich meinen Vater auf das versinkende Auto zu schwimmen, und nachdem sein Kopf unter Wasser ging, kam er nicht mehr hoch. Ich stand auf dem roten Felsvorsprung und schrie nach ihm, bis Lainie wie ein weißer Nebelschleier auf mich zukam und mit feuchtem Griff meine Hand umklammerte. Als sie mich vom See wegführte, konnte ich meine Mutter in der Ferne nach mir rufen hören, und am Waldrand stand eine Gestalt, deren langer Mantel im Wind flatterte.

      Ein Erdbeben weckte mich auf.

      Ich schlug die Augen auf. Mein Herz trommelte. Irgendetwas war soeben zerbrochen; das Geräusch war noch in meinem Kopf gefangen. Es brannte kein Licht. Noch regierte die Nacht. Ich streckte die Hand aus und berührte Ben neben mir. Er atmete scharf ein, als hätte meine Berührung ihn zu Tode erschreckt. Ich hörte einen Motor dröhnen, und als ich aus dem Fenster auf die Deerman Street schaute, sah ich die Rücklichter von Donny Blaylocks Chevy kleiner werden.

      Die Haustür, wurde mir klar. Der Klang der ins Schloss fallenden Haustür hatte mich aufgeweckt.

      »Ben?«, krächzte ich. Mein Mund war vom Schlafen wie betäubt. »Dein Dad ist nach Hause gekommen!«

      Im Wohnzimmer fiel irgendetwas zu Boden. Es schien das gesamte Haus zu erschüttern.

      »Sim?« Mrs. Sears Stimme, hoch und ängstlich. »Sim?«

      Ich stand auf, aber Ben blieb bewegungslos im Bett liegen. Ich glaube, er starrte zur Decke hoch. Ich schlich im Dunkeln durch den Flur. Unter meinen Füßen knarrten die Bodenbretter. Ich stieß mit Mrs. Sears zusammen, die im Flur an der Tür zum Wohnzimmer stand. Nirgendwo brannte Licht.

      Ich hörte heisere, schreckliche Atemzüge.

      Das war ein Geräusch, das von einem Marsmenschen stammen könnte, dessen außerirdische Lunge mit der Luft auf der Erde zu kämpfen hatte, dachte ich.

      »Sim?«, fragte Mrs. Sears. »Ich bin hier.«

      »Hier«, antwortete eine Stimme. »Hier … fuck … hier.«

      Ja, es war Mr. Sears‘ Stimme. Aber sie klang anders. Verändert. Es lag keinerlei Humor darin, kein Spaß, keine Andeutung eines Priesterwitzes. Es war eine Stimme schwer wie das Verhängnis und genauso gemein.

      »Sim, ich mache jetzt das Licht an.« Klick.

      Und da war er.

      Mr. Sears kauerte auf die Hände und Knie gestützt auf dem Boden, mit hängendem Kopf und einer Wange in den Teppich gepresst. Sein Gesicht sah aufgedunsen und nass aus, seine Augen in fleischigen Falten versunken. Die rechte Schulter seiner Jacke war schmutzig und seine Jeans waren dreckverschmiert, als wäre er im Wald hingefallen. Er blinzelte ins Licht. Ein silberner Speichelfaden hing von seiner Unterlippe herab. »Wo isse?«, fragte er. »Siehst du sie?«

      »Da … neben deiner rechten Hand.«

      Er tastete mit der linken Hand über den Fußboden. »Du bist ’ne gottverdammte Lügnerin«, sagte er.

      »Neben deiner andern Hand, Sim«, sagte sie müde.

      Seine rechte Hand bewegte sich auf den Metallgegenstand auf dem Teppich zu. Es war ein Flachmann und seine Finger krallten sich darum und zogen ihn heran.

      Er stieß sich auf die Knie und starrte seine Frau an. Sein Gesicht verzerrte sich grimmig, abstoßend durch die Schnelligkeit, in der seine Miene sich verwandelte. »Werd nich‘ frech«, sagte er. »Mach bloß nich‘ deine große fette Fresse auf.«

      Das war der Moment, in dem ich mich wieder nach hinten