Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder


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zu hohe Note, die andere eine zu tiefe. »Kommt, bevor sie jemand klaut!«

      Grand Austin und Nana Alice saßen auf derselben Bank. Grand Austin hatte einen Leinenanzug an, der aussah, als wäre er im Regen um zwei Größen eingelaufen. Sein faltiger Hals wurde von einem gestärkten weißen Kragen und einer blauen Fliege eingeklemmt, seine schütteren weißen Haare waren nach hinten gekämmt und seine Augen voller Elend, so wie er dort das Holzbein unter die Bank vor sich gestreckt dasaß. Er saß neben Granddaddy Jaybird, was seinen Unmut nur noch verstärkte: Die beiden verstanden sich so gut wie Katz und Maus. Nana Alice dagegen war ein Bild reinen Glücks. Sie trug einen mit kleinen weißen Blumen verzierten Hut, ihre weißen Handschuhe und ihr grünes Kleid, das glänzte wie Meerwasser im Sonnenschein. Ihr hübsches ovales Gesicht glühte förmlich; sie saß neben Grandmomma Sarah und die beiden verstanden sich wie Blumen im gleichen Bouquet. Im Moment zupfte Grandmomma Sarah allerdings an Granddaddy Jaybirds Anzugjacke – er trug stets denselben Anzug, im Winter wie im Sommer, zu Ostern oder bei Beerdigungen –, damit er sich hinsetzte und aufhörte, den Verkehr zu lenken. Er wies die Menschen auf den Bänken an, enger zusammenzurücken und brüllte dann: »Hier ist noch Platz für zwei!«

      »Setz dich hin, Jay! Setz dich!« Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn in seinen knochigen Hintern zu zwicken, woraufhin er ihr einen finsteren Blick zuwarf und auf der Bank Platz nahm.

      Meine Eltern und ich drückten uns die Bank entlang. »Schön, dich zu sehen, Tom«, sagte Grand Austin zu Dad und sie schüttelten sich die Hände. »Das heißt, wenn ich dich sehen könnte.« Seine Brille war beschlagen. Er nahm sie ab und rieb sie mit einem Taschentuch trocken. »Ich würde sagen, das ist der größte Andrang in den letzten sechs Jah-«

      »Voll wie ein Bordell am Zahltag, was, Tom?«, unterbrach Granddaddy Jaybird ihn, doch Grandmomma Sarah stieß ihm so hart ihren Ellbogen in die Rippen, dass seine falschen Zähne klickten.

      »Es wär schon schön, wenn du mich wenigstens einmal einen Satz zu Ende sprechen lassen würdest«, sagte Grand Austin mit errötenden Wangen zu ihm. »Seit ich hier sitze, schaffe ich es nicht, auch nur drei Worte z-«

      »Gut siehst du aus, Junge!«, redete Granddaddy Jaybird weiter und reckte sich an Grand Austin vorbei, um mir einen Klaps aufs Knie zu geben. »Rebecca, du gibst dem Jungen doch genügend Fleisch zu essen, oder? Du weißt doch, dass ein Junge im Wachstum Fleisch für seine Muskeln braucht!«

      »Hörst du nicht?«, fragte Grand Austin ihn. Die Röte in seinen Wangen pulsierte förmlich.

      »Hör ich was nicht?«, gab Granddaddy Jaybird zurück.

      »Mach dein Hörgerät an, Jay«, sagte Grandmomma Sarah.

       »Was?«

      »Hörgerät!«, schrie sie, offenbar mit ihrer Geduld am Ende. »Mach es an!«

      Es versprach ein denkwürdiges Osterfest zu werden.

      Alle Leute begrüßten sich, und es kamen immer noch mehr nasse Menschen in die Kirche, während der Regen erneut aufs Dach zu prasseln begann. Granddaddy Jaybird mit seinem langen, ausgemergelten Gesicht und Haaren wie einer weißen Wurzelbürste wollte mit Dad über den Mord sprechen, aber Dad schüttelte den Kopf und ging nicht darauf ein. Grandmomma Sarah fragte mich, ob ich dieses Jahr Baseball spielen würde, und ich sagte ja. Sie hatte ein freundliches Gesicht mit dicken Wangen und blassblaue Augen in einem Nest aus Falten, aber ich wusste, dass Granddaddy Jaybirds Art sie oft vor Wut auf die Palme brachte.

      Die Fenster waren wegen des Regens alle geschlossen und die Luft wurde immer schwüler. Die Fußbodenbretter waren nass, die Wände leckten und die Ventilatoren ächzten beim Drehen. Die Kirche roch nach hundert verschiedenen Parfüms, Rasierwassern und Haarwassern, sowie dem süßen Duft der Blumen, die Anzugstaschen und Hüte zierten. Die Mitglieder des Chors kamen in ihren lilafarbenen Gewändern herein. Schon bevor die erste Hymne zu Ende war, schwitzte ich in meinem Hemd. Wir erhoben uns, sangen eine Hymne und setzten uns wieder. Zwei äußerst beleibte Frauen – Mrs. Garrison und Mrs. Prathmore – gingen nach vorn, um über die Kollekte für die Armut leidenden Familien im Adams Valley zu reden. Dann standen wir auf, sangen noch eine Hymne und setzten uns wieder. Meine beiden Großväter hatten Stimmen wie Bullfrösche, die sich in einem Sumpfloch stritten.

      Reverend Richmond Lovoy, dick und rundgesichtig, stellte sich an die Kanzel und begann zu predigen, was für ein glorreicher Tag dies war, denn schließlich war Jesus von den Toten auferstanden und so weiter. Dem Reverend hing eine braune Haarsträhne wie ein Komma über sein linkes Auge. An den Schläfen war er ergraut, und jeden Sonntag rissen sich seine nach hinten gebürsteten Haare aus ihrem pomadisierten Halt los, um sich während seines Predigens und Gestikulierens wie eine braune Flut über sein Gesicht zu ergießen. Seine Frau hieß Esther und ihre drei Kinder Matthew, Luke und Joni.

      Während Reverend Lovoy im Wettkampf mit dem himmlischen Donner predigte, erkannte ich, wer direkt vor mir saß.

      Die Dämonin.

      Sie konnte Gedanken lesen. Das war eine von allen akzeptierte Tatsache. Und in dem Moment, in dem ich bemerkte, dass sie vor mir saß, drehte sie den Kopf und starrte mich aus diesen schwarzen Augen an, die selbst eine Hexe mitternachts erstarren lassen konnten. Die Dämonin hieß Brenda Sutley. Sie war zehn Jahre alt, hatte dünne rote Haare und ein blasses Gesicht voller brauner Sommersprossen. Ihre Augenbrauen waren dick wie Raupen und ihre ungleichmäßigen Gesichtszüge sahen aus, als hätte jemand mit der flachen Seite einer Schaufel versucht, darauf ein Feuer auszuschlagen. Ihr rechtes Auge sah größer als das linke aus, ihre Nase war ein Schnabel mit zwei klaffenden Löchern und ihr dünnlippiger Mund schien von einer Seite ihrer Miene zur andern zu wandern. Sie konnte aber nichts dafür; ihre Mutter war ein Feuerhydrant mit roten Haaren und einem braunen Schnurrbart, und gegen ihren rotbärtigen Vater sah selbst ein Zaunpfosten muskulös aus. Bei so viel Rot in der Familie war es kein Wunder, dass Brenda Sutley gruselig war.

      Die Dämonin hatte ihren Namen bekommen, weil sie in Kunst einmal ein Bild von ihrem Vater mit Hörnern und einem gespalteten Teufelsschwanz gemalt hatte. Zu Mrs. Dixon, der Kunstlehrerin, und ihren Klassenkameraden hatte sie gesagt, dass ihr Papa hinten in seinem Schrank einen großen Stapel Zeitschriften besaß, in denen Dämonenjungs ihre Schwänze in die Löcher von Dämonenmädchen steckten. Aber die Dämonin hatte nicht nur ihre Familiengeheimnisse gelüftet. Sie hatte einer toten Katze Pennys auf die Augen geklebt und sie am Mitbringtag zur Schule mitgebracht; und sie hatte in Kunst aus grüner und weißer Knete einen Friedhof gebastelt, auf dessen Grabsteinen die Namen und Todesdaten ihrer Mitschüler standen, woraufhin einige Kinder hysterisch wurden, als sie entdeckten, dass sie nicht mal sechzehn werden würden. Außerdem hatte sie eine beunruhigende Schwäche für Streiche mit zwischen Brotscheiben gepresster Hundekacke. Alle erzählten sich, dass sie hinter der Abflussrohrexplosion steckte, als letzten November sämtliche Mädchentoiletten in der Schule mit Papier verstopft waren.

      Um es mit einem Wort zu sagen: Sie war unheimlich.

      Und jetzt starrte mich ihre königliche Unheimlichkeit an.

      Ein langsames Lächeln dehnte ihren schiefen Mund. Ich konnte nicht von ihren durchdringenden schwarzen Augen wegsehen und dachte: Sie hat mich. Das Problem mit Erwachsenen ist, dass sie in Gedanken immer völlig woanders sind, wenn man will, dass sie etwas sehen und eingreifen; und wenn man will, dass sie sich um andere Dinge kümmern, sitzen sie einem auf der Pelle. Ich wollte, dass Dad oder Mom oder sonst wer Brenda Sutley sagte, sie sollte sich wieder umdrehen und Reverend Lovoy zuhören, aber natürlich war es, als hätte die Dämonin sich unsichtbar gemacht. Niemand außer mir, ihrem momentanen Opfer, konnte sie sehen.

      Ihre rechte Hand schwebte empor wie der Kopf einer kleinen weißen Schlange mit schmutzigen Fängen. Langsam, mit bösartiger Eleganz, streckte sie den Zeigefinger aus und richtete ihn auf eins ihrer klaffenden Nasenlöcher. Der Finger bohrte sich tief ins Nasenloch, und ich dachte, dass sie ihn immer weiter hochschieben würde, bis ihr gesamter Finger verschwunden war. Doch dann wurde der Zeigefinger wieder herausgezogen. An der Spitze klebte eine grün glänzende Masse von der Größe eines Maiskorns.

      Ihre schwarzen Augen blinzelten nicht. Langsam