Robert Mccammon

BOY'S LIFE - Die Suche nach einem Mörder


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in den Rückspiegel. Natürlich sah er nur denselben Regen und dieselbe leere Straße wie ich. Er streckte die Hand aus und berührte meine Stirn. »Du bist doch nicht krank?«

      »Nein, Sir.« Ich hatte kein Fieber. Dessen war ich mir sicher. Mein Vater nahm seine Hand von meiner Stirn und legte sie wieder aufs Lenkrad, nachdem er überzeugt war, dass ich keine erhöhte Temperatur hatte. »Sitz einfach still«, sagte er, und ich gehorchte. Er konzentrierte sich wieder auf die schwierige Straße, aber sein Kiefermuskel zog sich ein paar Sekunden lang zusammen, und ich nahm an, dass er zu entscheiden versuchte, ob ich zu Dr. Parrish musste oder Stubenarrest verdiente.

      Ich sagte nichts mehr über das schwarze Auto, da ich wusste, dass Dad mir nicht glauben würde. Aber ich hatte das Auto schon mal gesehen. In Zephyr. Es hatte sich immer mit einem Grollen und Knurren angekündigt, wenn es herumfuhr, und wenn es einen überholte, konnte man die Hitze riechen und den Asphalt schimmern sehen. »Das schnellste Auto der Stadt«, hatte Davy Ray mir gesagt, als er und ich mit den anderen Jungs an einem schwülen Augusttag vor dem Eishaus in der Merchants Street herumhingen und die kühle Brise genossen, die von den Eisblöcken ausging. »Mein Dad«, hatte Davy Ray mir anvertraut, »sagt, dass niemand schneller als Midnight Mona ist.«

      Midnight Mona. So hieß das Auto. Der Typ, dem es gehörte, hieß Stevie Cauley. »Little Stevie« wurde er genannt, weil er keine eins-sechzig groß war, obwohl er schon zwanzig war. Er war ein Kettenraucher von Chesterfield-Zigaretten; vielleicht hatten die sein Wachstum gehemmt.

      Aber der Grund, aus dem ich meinem Dad nicht sagte, dass Midnight Mona hinter uns auf der regenglitschigen Straße herraste, waren meine Erinnerungen an das, was in einer Nacht im letzten Oktober passiert war. Mein Dad, der zur Freiwilligen Feuerwehr gehört hatte, bekam einen Anruf. Es war Hauptbrandmeister Marchette, sagte er Mom. Ein Auto war auf der Route Sixteen von der Straße abgekommen und hatte im Wald Feuer gefangen. Mein Dad war schnell zur Hilfe hingefahren und ein paar Stunden später mit Asche im Haar und dem Geruch von verbranntem Holz in der Kleidung heimgekommen. Nach jener Nacht und dem, was er gesehen hatte, wollte er nicht mehr bei der Feuerwehr sein.

      Wir waren jetzt auf der Route Sixteen unterwegs. Und bei dem Auto, das von der Straße abgekommen und ausgebrannt war, hatte es sich um Midnight Mona mit Little Stevie Cauley am Steuer gehandelt.

      Little Stevie Cauleys Leiche – das, was davon übrig war, meine ich – lag auf dem Poulter Hill Friedhof im Sarg. Midnight Mona war ebenfalls nicht mehr da, sondern dort, wo ausgebrannte Autos hinkommen.

      Aber ich hatte Midnight Mona gesehen, wie sie aus dem Nebel heraus auf uns zuraste. Ich hatte jemanden am Steuer gesehen.

      Ich hielt den Mund. Ich hatte mir schon genug Ärger eingehandelt.

      Dad bog von der Route Sixteen ab und fuhr vorsichtig auf einer schlammigen kurvigen Seitenstraße in den Wald hinein. Wir kamen an einer Stelle vorbei, an der alle möglichen alten rostigen Metallschilder an die Bäume genagelt waren; es mussten mindestens hundert sein, Werbung für alles von Green Spot Orange Soda über B.C. Headache Powders bis zum Grand Ole Opry. Von dem Schilderwald führte die Straße auf ein graues Holzhaus mit einer schiefen Veranda zu, in dessen Vorgarten – womit ich ein Meer von Unkraut meine und nicht einen Rasen und Blumen, wie die meisten Leute es kennen – auf ungeordneten Haufen eine wilde Kollektion von verrosteten Wäschemangeln, Küchenherden, Lampen, Bettgestellen, elektrischen Ventilatoren, Kühlschränken und kleineren Geräten lag. Es gab Drahtrollen groß wie mein Vater und riesige Körbe voller Flaschen, und inmitten des Schrotts stand ein Metallschild von einem lächelnden Polizisten, auf dessen Brust die rote Aufschrift HALT NICHT STEHLEN stand. In seinem Kopf befanden sich drei Schusslöcher.

      Ich bezweifle, dass Diebstahl ein Problem für Mr. Sculley war, denn kaum, dass Dad hielt und die Tür aufmachte, sprangen zwei rote Jagdhunde von der Veranda und begannen ohrenbetäubend zu bellen. Ein paar Sekunden später klappte die Haustür auf und eine zerbrechlich aussehende kleine Frau mit langem weißem Zopf und einem Gewehr kam heraus.

      »Wer’s da?«, brüllte sie mit einer Stimme wie ein Holzfäller. »Was woll’n Sie?«

      Mein Vater hob die Hände. »Tom Mackenson, Mrs. Sculley. Aus Zephyr.«

      »Tom wer

      »Mackenson!« Er musste schreien, um die Jagdhunde zu übertönen. »Aus Zephyr!«

      »Ruhe!«, grölte Mrs. Sculley und nahm eine Fliegenklatsche von einem Haken auf der Veranda, mit der sie den Hunden ein paar Schläge überzog, was das Gebell um ein paar Dezibel dämpfte.

      Ich stieg aus dem Auto und stellte mich dicht neben meinen Dad. Unsere Schuhe versanken in versumpftem Unkraut. »Ich muss mit Ihrem Mann sprechen, Mrs. Sculley«, erklärte Dad. »Er hat aus Versehen das Fahrrad von meinem Sohn mitgenommen.«

      »Nee«, gab sie zurück. »Emmet, der nimmt nichts aus Versehen mit.«

      »Ist er da, bitte?«

      »Hinterm Haus«, sagte sie und schwenkte das Gewehr in die Richtung. »In einem von den Schuppen da.«

      »Danke.« Er setzte sich in Bewegung und ich folgte. Wir waren vielleicht ein halbes Dutzend Schritte weit gekommen, als Mrs. Sculley sagte: »He! Wenn ihr über was stolpert und euch die Knochen brecht, sind wir aber nicht verantwortlich, habt ihr gehört?«

      Wenn das, was sich vor dem Haus stapelte, unordentlich war, dann war das dahinter ein absoluter Albtraum. Die beiden Schuppen waren Gebilde aus Wellblech, so groß wie Tabakscheunen. Um dorthin zu gelangen, musste man einem holprigen Pfad folgen, der sich zwischen Bergen von Abfall hindurchwand; Schallplattenspieler, zerbrochene Statuen, Gartenschläuche, Stühle, Rasenmäher, Türen, Kaminsimse, Töpfe und Pfannen, alte Ziegelsteine, Dachschindeln, Schürhaken, Autokühler und Waschschüsseln, um nur ein paar aufzuzählen. »Erbarme dich«, sagte Dad mehr zu sich selbst, als wir das Tal zwischen diesen hohen Bergen durchschritten. Der Regen rann und spritzte auf all die Gegenstände, lief an manchen Stellen gurgelnd wie ein kleiner Bach von den Metallbergspitzen herunter. Und dann kamen wir zu einem großen Stapel verdrehter und verhakter Gegenstände, der mich abrupt stehenbleiben ließ. Denn ich wusste, dass ich einen geradezu mystischen Ort gefunden hatte.

      Vor mir waren Hunderte von Fahrradrahmen aufgetürmt, von Rost zusammengehalten, ohne Schläuche und mit gebrochenem Rücken.

      Man sagt, dass die Elefanten in Afrika einen geheimen Friedhof haben, wo sie hingehen, um sich hinzulegen und sich von ihrem faltigen grauen Körper zu befreien; wo sie wegschweben und schließlich federleichte Geister werden. In jenem Moment glaubte ich, dass ich den Fahrradfriedhof gefunden hatte, wo die Kadaver Jahr um Jahr unter Regen und der heißen Sonne zerbröseln, lange, nachdem die Seele ihres Wanderlebens sie verlassen hat. An manchen Stellen in dem gewaltigen Haufen waren die Räder so verwest, dass sie eher wie rote und kupferne Blätter aussahen, die darauf warteten, an einem Herbsttag verbrannt zu werden. Anderswo stachen zerbrochene Scheinwerfer heraus, blind, aber auf tote Weise trotzig. Krumme Lenkstangen besaßen noch ihre Gummigriffe und von manchen Griffen baumelten bunte Vinylstreifen wie ausgebleichte Flammen. Ich stellte mir all diese Räder lebendig mit neuer Farbe vor, mit neuen Schläuchen und neuen Pedalen und Ketten, die sich in einem Bett aus sauberem neuem Fett an ihre Zahnräder schmiegten. Es machte mich auf eine Art traurig, die ich nicht begriff. Ich sah, wie alles ein Ende hat, egal, wie sehr wir etwas behalten wollen.

      »Hallo aber auch!«, sagte jemand. »Mir war doch so, als wär der Alarm losgegangen.«

      Mein Dad und ich sahen einen Mann, der eine große Handkarre durch den Matsch schob. Er hatte einen Overall und schlammbespritzte Stiefel an, einen dicken Bauch und einen Kopf voller Leberflecke, auf dem ein weißes Sträußchen Haare zu Berge stand. Mr. Sculleys Gesicht war faltig und seine Knollennase war an der Spitze durch kleine geplatzte Äderchen lila gefärbt. Seine grauen Augen lagen hinter runden Brillengläsern. Er grinste ein quadratisches Grinsen, das seine dunkelbraunen Zähne entblößte. Aus einem Leberfleck an seinem stoppeligen Kinn sprossen drei weiße Haare. »Was kann ich für Sie tun?«

      »Ich bin Tom Mackenson«, sagte mein Dad und streckte die Hand aus. »Jays Sohn.«

      »Ach