einem dünnen erhobenen Finger bedeutete er uns, ihm in den Korridor zu folgen.
Es war an der Zeit, die Bekanntschaft der Lady zu machen.
»Es geht ihr in letzter Zeit nicht so gut«, sagte Amelia zu uns. »Dr. Parrish hat ihr alle möglichen Vitamine gegeben.«
»Es ist hoffentlich nichts Ernstes?«, entgegnete meine Mutter.
»Der Regen hat ihrer Lunge zu schaffen gemacht. Feuchtes Wetter bekommt ihr nicht, aber seit die Sonne wieder scheint, geht es ihr etwas besser.«
Wir kamen an eine Tür. Der Mondmann öffnete sie. Seine Schultern waren gebrechlich und gebeugt. Ich roch den Duft von verstaubten Veilchen.
Amelia warf zuerst einen Blick in das Zimmer. »Ma’am? Ihr Besuch ist da …«
Laken raschelten. »Bitte«, sagte die zittrige Stimme einer alten Frau, »schick sie herein.«
Meine Mutter holte tief Luft und betrat das Zimmer. Ich musste ihr folgen, da sie immer noch meine Hand umklammerte. Der Mondmann blieb draußen stehen und Amelia sagte, bevor sie sanft die Tür schloss: »Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie bitte.«
Und da war sie nun.
Sie lag in einem weißen Metallbett, den Rücken von einem Brokatkissen gestützt, und hatte das Laken bis über die Brust hochgezogen. Die Wände ihres Schlafzimmers waren mit grünen Palmwedeln und Blättern bemalt, und wäre da nicht das höfliche Summen eines Standventilators gewesen, hätten wir genauso gut am Äquator im Dschungel stehen können. Eine Nachttischlampe brannte, unter der Zeitschriften und Bücher gestapelt waren, und eine Brille mit Drahtgestell lag in Reichweite.
Die Lady starrte uns für einen Moment an und wir starrten zurück. In dem weißen Bett sah sie fast blauschwarz aus. Kein Millimeter ihres Gesichts war ohne Falten. Sie erinnerte mich an diese Puppen mit Köpfen aus Äpfeln, die in der Mittagssonne verschrumpeln. Ich hatte einmal eine Handvoll Schnee gesehen, die von den Rohren des Eishauses abgekratzt worden war; die weichen Wolkenhaare der Lady waren weißer. Sie hatte ein blaues Nachthemd an, dessen Träger über ihren knochigen Schultern lagen, und ihre Schlüsselbeine standen so hoch unter ihrer Haut hervor, dass es schmerzhaft aussah. Ebenso ihre Wangenknochen; sie wirkten so scharf, als könnte man einen Pfirsich daran aufschneiden. Um die Wahrheit zu sagen, sah die Lady nicht anders aus als irgendeine andere uralte, spindeldürre Frau, deren Kopf wegen Schüttellähmung wackelte. Bis auf einen Unterschied.
Ihre Augen waren grün.
Ich meine nicht irgendein gewöhnliches Grün. Ich meine die Farbe von hellen Smaragden, Edelsteinen, nach denen Tarzan in einer der verlorenen Städte Afrikas hätte suchen können. Sie leuchteten, randvoll mit gefangenem brennendem Licht, und wenn man in sie hineinsah, hatte man das Gefühl, als würde einem das tiefste Innere wie eine Sardinenbüchse aufgezogen und etwas daraus gestohlen. Und man hätte vielleicht nicht einmal etwas dagegen; man hätte es vielleicht sogar gewollt. Noch nie zuvor hatte ich derartige Augen gesehen, und ich habe solche auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Sie machten mir Angst, aber ich konnte mich nicht abwenden, weil sie von der Schönheit eines wilden Tieres waren, das man stets vorsichtig im Blick behalten muss.
Die Lady blinzelte und ein Lächeln schwang sich auf ihren faltigen Mund. Falls es nicht ihre eigenen Zähne waren, dann war es ein gutes Gebiss. »Was sehen Sie beide schick aus«, sagte sie mit ihrer zittrigen Stimme.
»Danke, Ma’am«, brachte Mom heraus.
»Ihr Mann wollte nicht mitkommen?«
»Äh … nein, er … hört sich im Radio das Baseballspiel an.«
»Ist das seine Entschuldigung, Miz Mackenson?« Sie hob die weißen Augenbrauen.
»Ich … verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Manche Leute haben Angst vor mir«, sagte die Lady. »Können Sie das glauben? Angst vor einer hundertsechs Jahre alten Frau! Lieben Sie Ihren Mann, Miz Mackenson?«
»Ja, das tue ich. Sehr.«
»Das ist gut. Starke, wahre Liebe kann einen durch schlimme Zeiten retten. Und ich sage Ihnen, meine Liebe, dass man viele schlimme Zeiten durchmachen muss, um so alt wie ich zu werden.« Die grünen, wundervollen und erschreckenden Augen in dem faltigen schwarzen Gesicht richteten ihre gesamte Kraft auf mich. »Hallo, junger Mann«, sagte sie. »Hilfst du deiner Mama im Haushalt?«
»Ja, Ma’am.« Es kam als Flüstern heraus. Mein Hals war wie ausgetrocknet.
»Trocknest du ab? Räumst du dein Zimmer auf? Fegst du die Veranda?«
»Ja, Ma’am.«
»Das ist gut. Aber ich wette, dass du noch nie einen Besen so benutzt hast wie den in Nila Castiles Haus, oder?«
Ich schluckte hart. Jetzt wussten meine Mutter und ich, worum es ging.
Die Lady grinste. »Ich wünschte, ich wäre dort gewesen. Wirklich!«
»Hat Nila Castile es Ihnen erzählt?«, fragte Mom.
»Das hat sie. Und ich habe mich auch lange mit dem kleinen Gavin unterhalten.« Ihre Augen ließen mich nicht los. »Du hast Gavin das Leben gerettet, junger Mann. Weißt du, wie viel mir das bedeutet?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nilas Mutter, möge sie in Gott ruhen, war eine gute Freundin von mir. Ich habe Nila sozusagen adoptiert. Gavin war immer wie mein Urgroßenkel für mich. Gavin hat ein gutes Leben vor sich. Du hast dafür gesorgt, dass er es leben kann.«
»Ich hab nur … zugesehen, dass ich selbst nicht gefressen wurde«, sagte ich.
Sie lachte; es war ein keuchendes Geräusch. »Mit einem Besenstiel in die Flucht geschlagen! Gott, mein Gott! Er hatte sich für so ein brutales altes Biest gehalten, gedacht, dass er einfach aus dem Fluss rausschwimmen und sich eine gute Mahlzeit schnappen kann! Aber du hast es ihm gegeben, nicht wahr?«
»Er hat einen Hund gefressen«, sagte ich.
»Ja, so was macht er«, erwiderte die Lady und ihr Lachen versiegte. Ihre dünnen Finger verflochten sich über ihrem Bauch. Sie sah meine Mutter an. »Sie haben Nila und ihrem Daddy geholfen. Deshalb … wenn Sie irgendetwas repariert haben müssen, rufen Sie Mr. Lightfoot an und es wird erledigt. Ihr Junge hat Gavin das Leben gerettet. Darum möchte ich ihm etwas schenken, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Das ist unnötig.«
»Nötig ist nichts«, sagte die Lady und ließ etwas Verärgerung aufblitzen, was mir den Eindruck vermittelte, dass sie in jüngeren Jahren wohl kein allzu umgänglicher Mensch gewesen war. »Deswegen will ich das ja.«
»Na gut«, sagte Mom ganz eingeschüchtert.
»Junger Mann?« Die Lady richtete ihren Blick wieder auf mich. »Was möchtest du gern haben?«
Ich überlegte. »Egal, was?«, fragte ich.
»Natürlich nichts Übertriebenes«, sagte Mom nachdrücklich.
»Egal, was«, bestätigte die Lady.
Ich dachte noch ein bisschen nach, aber die Entscheidung fiel mir nicht schwer. »Ein Fahrrad. Ein neues Fahrrad, das vorher noch nie jemandem gehört hat.«
»Ein neues Fahrrad.« Sie nickte. »Eines, das einen Scheinwerfer hat?«
»Ja, Ma’am.«
»Willst du eine Hupe dran haben?«
»Das wäre toll«, sagte ich.
»Soll es ein ganz schnelles sein? Schneller, als ‘ne Katze einen Baum hochspringen kann?«
»Ja, Ma’am.« Jetzt wurde ich ganz aufgeregt. »Oh ja!«
»Dann wirst du das auch bekommen! Sobald ich meine alten Knochen aus dem Bett bewegen kann.«
»Das ist äußerst nett von Ihnen«, sagte Mom. »Wir sind Ihnen sehr dankbar. Aber Corys Vater und ich können