»Jacques hat ihm einen Prozeß angehängt.«
»Und er hat, so wahr ich lebe, gut daran getan; ebenso wie er unrecht tat, den Prozeß nicht bis aufs Äußerste zu treiben. Claudieuse erhebt auf den Bach, der uns trennt, auf die Pibole, die übertriebensten Ansprüche. Er würde zu jeder Jahreszeit und nach seinem Belieben das Wasser aufstauen, auf die Gefahr hin, die ganze Umgebung von Boiscoran, das viel tiefer liegt, zu überfluten. Schon mein seliger Bruder, der ein Engel an Geduld war, kam fortwährend in Streitigkeiten mit diesem Rechthaber.«
Dennoch war die Marquise nicht überzeugt.
»Es ist hier noch etwas anderes im Spiel«, sagte sie.
»Was denn?«
»Ah, das ist's eben, was ich mich vergeblich frage.«
»Hat Jacques dir irgendeine Andeutung gemacht?«
»Nein; aber höre, was sich zugetragen hat. Im vergangenen Jahre hatte ich Gelegenheit, der Gräfin Claudieuse und ihren Töchtern bei der Herzogin von Champdoce zu begegnen. Sie ist reizend, diese junge Frau, und da wir in der folgenden Woche einen Ball gaben, kam mir die Idee, sie einzuladen, was ich auch ausführte. Aber sie lehnte mit einem Tone so eisiger Zurückhaltung ab, daß ich nicht weiter auf der Einladung bestehen konnte.«
»Nun, wahrscheinlich, weil sie das Tanzen nicht liebt«, meinte der Marquis.
»An demselben Abend äußerte ich mich über meinen Versuch gegen Jacques. Er schien sehr erbittert und sagte nur mit einer Aufwallung von Heftigkeit, die seine Ehrerbietung kaum in Schranken hielt, ich hätte sehr unrecht getan, und er hätte seine Gründe, warum er mit diesen Leuten nichts zu tun haben wolle.«
Die Zuversicht des Herrn von Boiscoran war so vollkommen, daß er nur noch mit zerstreutem Ohr hinhörte und verstohlen aus dem Augenwinkel nach seinen kostbaren Fayencen schielte.
»Es mag sein, daß Jacques die Claudieuses nicht mag, aber was folgt daraus? Lieber Gott, man ermordet doch nicht alle Leute, mit denen man nichts zu tun haben mag.«
Frau von Boiscoran ging nicht weiter.
»Nun, kurzum«, fragte sie, »was ist zu tun?«
Es war so wenig ihre Gewohnheit, ihren Mann um Rat zu fragen, daß er ganz verdutzt erschien.
»Vor allem«, antwortete er, »müßte Jacques aus dem Gefängnis gezogen werden ... man müßte zusehen ... beraten ...«
Ein rasches und leichtes Klopfen an die Tür unterbrach ihn.
»Herein!« rief er.
Ein Diener mit einem großen Kuvert, das die Aufschrift »Telegraphische Depesche« trug, trat herein.
»Da kommt ja etwas!« rief der Marquis aus. »Ich war meiner Sache doch gewiß. Dies wird uns Aufschluß geben und unsere aufgeregten Gemüter besänftigen!«
Der Diener hatte sich zurückgezogen; der Marquis erbrach das Kuvert. Aber bei dem ersten Blick, den er auf die Depesche warf, wurde das Lächeln auf seinen Lippen zu Eis; er erblaßte und sagte bloß:
»Mein Gott!«
Rasch wie ein Gedanke bemächtigte Frau von Boiscoran sich des unheilvollen Blattes. Mit einem Blick überflog sie das Folgende: »Kommen Sie rasch! Jacques im Gefängnis, in Untersuchungshaft, eines gräßlichen Verbrechens angeklagt. Die ganze Stadt behauptet, daß er schuldig sei und sogar gestanden habe. Es ist eine schändliche Verleumdung. Sein Untersuchungsrichter ist sein früherer Freund Galpin-Daveline, der Cousine Lavarande heiraten sollte. Weiß nichts, als daß Jacques unschuldig. Es ist eine abscheuliche Intrige. Großvater Chandoré und ich werden das Unmögliche versuchen. Ihre Hilfe unentbehrlich, kommen Sie, kommen Sie! Denise von Chandoré.«
»Oh! mein Sohn ist verloren!« rief Frau von Boiscoran, in Tränen ausbrechend. Der Marquis aber hatte sich schon wieder von diesem furchtbaren Schlage erholt.
»Und ich«, rief er, »behaupte mehr denn je mit Denise, die ein braves Mädchen ist, daß Jacques unschuldig leidet! Aber er ist in Gefahr; ich sehe es ein. Der Strafprozeß ist ein gefahrvoller Vorgang. Zu welchen Aussagen werden nicht die Menschen in den Verhören gebracht!«
»Es muß gehandelt werden«, fiel Frau von Boiscoran ihm, vor Schmerz halb von Sinnen, ins Wort.
»Jawohl, ohne eine Sekunde zu verlieren ... Wir haben Freunde. Sehen wir zu, welche unter ihnen uns am besten nützen können.«
»Ich könnte an Herrn von Margeril schreiben.«
»Wie, du wagst es«, rief der Marquis, dessen bleiche Züge aschfarben wurden, »diesen Namen in meiner Gegenwart auszusprechen!«
»Er ist allmächtig, und mein Sohn ist in Gefahr.« Mit drohender Gebärde hielt der Marquis sie zurück.
»Ich würde eher«, schrie er in dem Ton des entsetzlichsten Hasses, »ich würde tausendmal eher meinen Sohn auf dem Schafott sterben lassen, als seine Befreiung diesem Mann verdanken!«
Frau von Boiscoran schien einer Ohnmacht nahe.
»Mein Gott«, flüsterte sie, »es war nur unüberlegt von mir.«
»Genug«, unterbrach der Marquis in hartem Tone, und sich gewaltsam fassend, fuhr er fort: »Ehe wir irgend etwas unternehmen, müssen wir wissen, woran wir sind. Du reist noch heute abend nach Sauveterre ab.«
»Allein?«
»Nein. Ich werde dir einen geschickten und zuverlässigen Rechtsbeistand ausfindig machen, einen Anwalt, der nicht Politiker ist – wenn sich noch ein solcher findet. Er wird dich dorthin begleiten und mich über alles in Kenntnis setzen, damit ich hier je nach den Umständen handeln kann. Denise hat recht: Jacques ist das Opfer irgendeiner dunklen Intrige ... Gleichviel, wir werden ihn retten. Vor allem aber gilt es, Ruhe – die größte Ruhe zu behalten!«
Während er dies sagte, klingelte er mit solcher Heftigkeit, daß sämtliche Diener verwirrt hereinstürzten.
»Man rufe sofort«, befahl Herr von Boiscoran, »meinen Rechtsberater, Herrn Chapelain, herbei ... man nehme einen Wagen!«
Der Diener, der die Besorgung übernahm, beeilte sich dermaßen, daß zwanzig Minuten später Herr Chapelain eintrat.
»Ach! wir bedürfen all Ihrer Erfahrung, mein würdiger Freund!« rief der Marquis ihm zu. »Hier ... lesen Sie diese Depeschen!«
Glücklicherweise wußte der Rechtsberater seine Eindrücke zu verbergen, denn wohl wissend, mit welcher Bedachtsamkeit man Haftbefehle auszustellen pflegt, glaubte er an Jacques' Schuld.
»Ich weiß einen Mann, wie die Marquise ihn braucht«, sagte er endlich.
»Ah!«
»Einen Mann, den seine Bescheidenheit bisher verhindert hat, sich hervorzutun, obgleich er einer der geschicktesten Juristen ist, die ich kenne, und dazu ein bewunderungswürdiger Redner.«
»Und sein Name?«
»Manuel Folgat ... Ich werde mich beeilen, ihn hieher zu senden.«
Zwei Stunden später betrat in der Tat der von Herrn Chapelain Empfohlene das Palais Boiscoran.