frieren, trotz der wärmenden Sonnenstrahlen, die durch das Blätterdach der Linden fielen.
»Den kann ich nachholen. In der freien Wirtschaft geht das nun mal so«, sagte Torsten, der immer noch ihre Hand hielt. »Du musst zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Wenn ich abgesagt hätte, könnte ich das gesamte Projekt in den Wind schreiben. Dann würden sie für die Toskana einen anderen Ingenieur nehmen. Es gibt ja genug.«
»Du hast also zugesagt?«
Er nickte mit entschlossener Miene. Doch während er sie ansah, schlich sich der Ausdruck von Unsicherheit in seine dunklen Augen. »War das falsch?«
Sie rieb sich die Stirn, als könnte sie so der Klarheit in ihrem Kopf auf die Beine helfen.
»Du gehst also in sechs Tagen in die Toskana und übernimmst damit schon jetzt die Leitung des Bauprojekts, statt erst in drei Monaten?«
»Genau.« Er strahlte sie an. »Und du kommst mit mir.«
Ruckartig entzog sie ihm ihre Hand.
»Wie stellst du dir das denn vor?«, fragte sie fassungslos. »Die Kinder haben Masern, Jonas hat keinerlei Ersatz für mich, keine Kinderfrau, niemanden, der ihn in der Hotelleitung entlastet.« Energisch schüttelte sie den Kopf. »Nein, Torsten, das geht nicht. Das kann ich nicht.«
Voller Betroffenheit sah er sie an. »Ich dachte, du liebst mich.«
Das konnte nicht wahr sein! Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, und musste gegen ein hysterisches Lachen ankämpfen. Mit letzter Kraft straffte sie die Schultern.
»Das geht nicht. Ich kann doch nicht von heute auf morgen alles hier hinter mir lassen. Jonas muss doch erst noch eine Lösung finden, wie es mit ihm und den Kindern weitergehen soll. Er hat mich gebeten, ihn in dieser Situation nicht allein zu lassen. Die Kinder hängen an mir. Sie haben schon ihre Mutter verloren. Das geht mir alles zu schnell.«
Torsten beugte sich zu ihr hinüber. Seine Stimme gewann die Zärtlichkeit zurück. Sanft, mit federleichter Bewegung, strich er ihr das Haar aus dem Gesicht und lächelte das alte, ihr schon so vertraute Lächeln.
»Verzeih«, sagte er leise, während er ihre Wange berührte. »Ich habe dich viel zu sehr damit überfallen. Natürlich verstehe ich, dass du deine Zelte hier binnen sechs Tagen nicht abbrechen kannst. Das wäre verantwortungslos. Aber vielleicht in einem Monat. In dieser Zeit müssten sich doch eine Kinderfrau und eine Haushälterin gefunden haben.«
Amelies Gedanken rasten. Sie atmete tief ein, um das Hämmern zwischen ihren Rippen zu beruhigen.
Wenn ich dich nicht hätte. In dieser schweren Zeit bist du mein einziger Halt, hörte sie Jonas in Erinnerung sagen. Gelt, Amelie, du bleibst doch immer bei uns?, hatte Tim noch gestern Abend mit treuherzigem Blick gefragt –, und sie hatte genickt.
»Du bist das Wichtigste in meinem Leben«, gestand ihr jetzt Torsten. Seine Hände hielten ihre fest, als ob er sie niemals mehr loslassen wollte. »Ich liebe dich wie mein Leben und ich will nicht mehr ohne dich sein. Wir beide, wir bauen uns eine gemeinsame Zukunft auf, ein Nest für unsere Kinder. Ich habe Angst vor einer Fernbeziehung, Angst davor, dass unsere Liebe zerbrechen würde, wenn wir uns vielleicht nur einmal im Monat zum Wochenende sehen. Liebe muss gelebt werden. Ich brauche dich um mich.«
In ihrem Hals bildete sich ein Kloß, der ihr die Kehle verschloss. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte hoch zum Himmel. Aus den kleinen weißen Wolken waren inzwischen größere geworden. Mühsam kämpfte die Sonne gegen die schnell ziehenden Wolkenberge an, die das Tal abwechselnd in Licht und Schatten tauchten. Wind kam auf, der die Blätter über ihnen rascheln ließ. Er zerrte an den Tischdecken –, so wie die Erwartungen von Jonas, den Kindern und auch von Torsten an Amelies Nerven zerrten. Ihre Brust hob und senkte sich in dem verzweifelten Versuch, die Beherrschung und auch die richtigen Worte zu finden. Doch das wollte ihr nicht gelingen. Sie spürte nur, wie in ihr der Schmerz wuchs, ihr Herz antrieb und ihr die Tränen in die Augen steigen ließ. Dann brach es auch ihr heraus: »Jeder will was von mir. Mein Vetter, die Kinder, du … Ich kann mich doch nicht zerteilen. Was soll ich denn bloß tun?«
Sichtlich erschrocken sah Torsten sie an. Dann zog er die dunklen Brauen zusammen.
»Man kann nicht mehreren Herren dienen«, erwiderte er sachlich. »Du musst dir überlegen, was dir am wichtigsten ist.«
»Du«, sagte sie, während ihr die ersten Tränen aus den Augen rannen. »Aber neben der Liebe zwischen Mann und Frau gibt es auch noch die Verantwortung, die man für andere Menschen empfindet, die in Not sind oder den Mut verloren haben.«
Torsten lehnte sich zurück. »Glaubst du nicht, dass du inzwischen ein Recht auf ein eigenes Leben hast? Ich gebe ja zu, dass der Moment nicht gerade der beste ist, aber wir haben uns halt jetzt kennengelernt und nicht vor einem Jahr oder in einem Jahr. So ist das Leben nun einmal. Konflikte sind da, um gelöst zu werden.«
Amelie fror unter den so kühl dahingesagten Worten des geliebten Mannes.
»Ich sage auch nicht, dass ich unfähig wäre, solche zu lösen. Oder sie nicht lösen will. Ich will dich. Und ich will mit dir gehen. In die Toskana und durch ein langes Leben. Aber nicht in sechs Tagen. Und ich weiß auch nicht, ob ich schon in drei Monaten dazu bereit bin.« Sie hielt inne, forschte in Torstens Zügen, wie er ihre harten Worte aufgenommen hatte. Doch seine undurchsichtige Miene ließ keine Deutung zu. »Du vergisst, dass ich die Menschen, für die ich mich verantwortlich fühle, auch von Herzen liebe. Jonas, die Kinder …«
Der Wind verstärkte sich. Er rüttelte an den Zweigen über ihnen. Viele Gäste standen auf und gingen. Immer wieder verdeckten schwarze größere Wolken die Sonne, sodass die Lichtverhältnisse in schneller Abfolge wechselten.
Amelie zog die Schultern zusammen. Torsten rief den Ober und zahlte. Während der Wind an ihrer Bluse zerrte, gingen sie zu ihren Wagen. Wie ein Fremder blieb Torsten einen Meter von ihr stehen.
»Verzeih, aber ich kann nicht anders, als den Auftrag annehmen. Ich will eine eigene Firma gründen, für Frau und Kinder. Ich mag nicht mehr allein durchs Leben laufen. Ich möchte eine Familie haben. Und der will ich eine gesicherte Existenz bieten können. Meine Frau soll für die Kinder da sein können, ohne arbeiten zu müssen.«
Amelie sah ihn starr an. Während sie ihm zuhörte, ging ihr ein Riss durchs Herz. Seine Worte klangen nach Abschied. Nach Endgültigkeit, wenn sie nicht mit ihm gehen würde.
Sie griff sich an die Stirn.
»Ich muss nach Hause«, sagte sie heiser.
Er nickte stumm mit bewegter Miene. Und sie hatte fast den Eindruck, dass in seinen dunklen Augen ein feuchter Glanz stand. Aber vielleicht täuschte sie sich auch. Auf jeden Fall machte er keine Geste, um sie zurückzuhalten, als sie in ihr Auto stieg.
Kaum hatte sie die Tür geschlossen, prasselten die ersten Tropfen auf ihr Wagendach. Und binnen weniger Sekunden kam eine Sintflut vom Himmel. Sie hörte ein kurzes Hupen und sah nur noch die roten Rückleuchten von Torstens Wagen. Unendlich traurig verließ auch sie den Parkplatz und spürte eine Finsternis um sich herum, die immer stärker wurde. Nicht nur die Sonne am Himmel war erloschen, sondern auch die in ihrem Herzen.
Als Amelie zurückkam, gab sie sich mit Jonas die Türklinke in die Hand. Er trug Hemd, Krawatte und einen Anzug, der wegen der starken Gewichtsabnahme seinen ehemaligen Chic verloren hatte.
»Gut, dass du kommst«, sagte Jonas gehetzt. »Ich muss rüber zum Hotel. Der Chef einer Reisebürokette hatte sich angemeldet, was ich ganz vergessen habe.«
»Brauchen wir denn noch Reklame fürs Hotel?«, fragte sie mit aufsteigendem Unmut. »Es läuft doch auch bestens ohne Präsenz in Reisekatalogen.«
»Man muss immer an die Zukunft denken.«
Sie hielt ihn am Arm fest. »Jonas, ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«
»Doch nicht jetzt. Das hat Zeit bis heute Abend.«
»Heute Abend bist du wieder kaputt.«
»Dann