Brille in den Händen. »Ich habe ihn ja nur zweimal gesehen, aber er machte auf mich einen sehr soliden, offenen Eindruck. Ein Mann der Tat, der sich nicht feige aus einer Situation schleicht. Und auch niemand, der mit den Gefühlen anderer spielt.«
Amelie presste die Lippen fest aufeinander. Sie unterdrückte das Kribbeln im Hals, den Vorboten neuer Tränen, von denen sie in den vergangenen Tagen genug geweint hatte.
»Jonas ist total sauer auf Torsten, obwohl er ihn ja gar nicht kennt«, sagte sie mit belegter Stimme. Auf ihrem blassen Gesicht zeigte sich ein liebevolles Lächeln. »Schon früher hat er mich gegen die Jungs verteidigt, die mich geärgert haben.«
Matthias hob die Brauen. »Ist er nicht eifersüchtig auf Herrn Richter?«
»Nein. Im Gegenteil, er hätte mir diese Liebe gegönnt. Ich habe sogar den Eindruck, dass er dadurch, dass ich ihm bewusst gemacht habe, ein eigenes Leben führen zu wollen, aufgewacht ist. Er hat sich viel zu sehr auf mich verlassen, aus reiner Gewohnheit. Jetzt lässt er sich viel weniger hängen und spricht auch weniger über seine Schmerzen.«
Matthias sah durchs Fenster hinaus in den Sonnenschein, der dort draußen Wärme, Heiterkeit und Leichtigkeit verbreitete. Er seufzte leise, als er daran dachte, dass diese Sonne auch gleichzeitig Schatten hervorrief. Genauso wie das Leben.
Die Liebe zu Torsten Richter hatte Amelie Glück und Unglück beschert. Dennoch hatte sie die junge Frau in ihrer Entwicklung weitergebracht. Diese kurze Beziehung hatte Amelie bewusst gemacht, dass sie ein eigenes Leben besaß. Diese neue Erkenntnis wiederum hatte dem Leben ihres Vetters eine andere Richtung gegeben. So stand alles miteinander in Zusammenhang. Wie Licht und Schatten.
»Was soll ich jetzt tun?«, unterbrach Amelie den Landarzt in seinen Gedanken.
Matthias suchte ihren Blick, der voller Vertrauen auf ihm lag.
»Was würdest du denn am liebsten tun?«, stellte er ihr die Gegenfrage.
»Noch einmal mit Torsten reden«, lautete die prompte Antwort.
»Genau das hätte ich dir auch geraten«, erwiderte er mit zufriedenem Lächeln. »Um mit dieser Liebe abschließen zu können, musst du wissen, warum Herr Richter ohne ein Wort gegangen ist. Aber vielleicht wird dieses Gespräch ja auch ein Neubeginn für euch beide werden. Die Dinge sind oft anders, als sie scheinen.«
Während in Ruhweiler die Sonne vom blauen Himmel strahlte, lag über Frankfurt eine dicke Wolkendecke.
Torsten saß in seiner Wohnung am Fenster und starrte in das Grau hinein, in das genauso grau der Messeturm ragte, umgeben von anderen grauen Hochbauten. Aus der Straßenschlucht drangen Verkehrsgeräusche und schlechte Luft zu ihm hinauf ins Zimmer.
Spätnachmittagsverkehr.
Zum zigsten Mal nahm er den Arbeitsvertrag in die Hand. Er hatte ihn unterschrieben. Schließlich brauchte er diesen Job. Morgen sollte es losgehen. Übermorgen würde er schon mit dem gelben Helm auf dem Kopf auf der Baustelle in der Nähe von Florenz stehen, umgeben von kreischenden Maschinen und fremden Menschen. Bisher hatte ihm die Eingewöhnung in ein neues Projekt nichts ausgemacht. Im Gegenteil. Es hatte ihn gereizt, ein neues Land und neue Kollegen kennenzulernen. Aber bis heute hatte er dafür auch nichts zurücklassen müssen. Sehnsucht? Hatte er nicht gekannt. Stets hatte er all das bei sich gehabt, was ihm wichtig gewesen war, was er gebraucht hatte. Nun war es anders. Sein Herz blieb in Deutschland. In Ruhweiler. Bei der Frau, die er liebte wie bisher keine zuvor. Amelie war aber auch die Frau, die ihn verletzt hatte wie keine andere bisher.
Verdammt. Wie hatte ihm das passieren können? Niemals hätte er ihr zugetraut, ein so falsches Spiel spielen zu können. Nicht Amelie. Vetter und Kusine … Seit Tagen marterte er sich schon, indem er immer wieder in Gedanken ihre Gespräche durchging, versuchte, sich an jedes ihrer Worte zu erinnern, an ihren Gesichtsausdruck, wenn sie von Jonas gesprochen hatte. Und immer noch fand er kein einziges Anzeichen dafür, dass sie ihren Vetter liebte wie einen Mann. Hatte er vielleicht überreagiert? Hatte er zu sehr unter der Wirkung des Gesprächs der Einheimischen am Tresen gestanden? Wie lächerlich, wie erbärmlich war die Situation gewesen, Amelie und Jonas zu beobachten! Sie hatten sich umarmt, zärtliche Gesten ausgetauscht. Oder vielleicht nur tröstende, wie es Menschen taten, die sich kannten und mochten? Geküsst hatten sie sich jedenfalls nicht.
Voller Verzweiflung fuhr er sich mit allen Fingern durchs Haar.
Er würde noch verrückt werden. Wie lange sollte dieser zermürbende Zustand noch andauern? Fragen über Fragen, die ihm niemand anderes beantworten konnte als Amelie.
Torsten sprang auf.
So konnte es nicht weitergehen. Für die verantwortungsvolle Aufgabe in der Toskana musste er einen klaren Kopf bekommen. Das bedeutete, er musste vor seinem Abflug morgen Mittag noch einmal mit Amelie reden.
Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er in zweieinhalb Stunden in Ruhweiler sein konnte –, wenn er wollte.
Das Gespräch mit Dr. Brunner hatte Amelie sicher gemacht, noch am Abend nach Frankfurt zu fahren. Sie wusste ja, dass Torsten am nächsten Tag in die Toskana fliegen würde. Also blieben ihr nur noch vierundzwanzig Stunden.
Als sie am Spätnachmittag Jonas ihren Plan mitteilte, bestätigte dieser sie in ihrem Vorhaben.
»Ich glaube zwar, dass dieser Typ einer derjenigen ist, die an jeder Arbeitsstelle ihre Affären haben, aber ich verstehe, dass du für dich Klarheit haben musst.« Er seufzte leise und fügte hinzu: »Morgen werde ich den Notarvertrag nach Zürich schicken. Unterschrieben. Ich brauche auch Klarheit.«
»Heißt das, dass du bereit bist, Britta endgültig aufzugeben?«
Er nickte. »Ich habe viel darüber nachgedacht, was zwischen ihr und mir falsch gelaufen ist. Du hast es mir schließlich gesagt, ohne es bewusst zu wollen: Du hast gesagt, dass du eine Seelenverwandte von Torsten bist. Zumindest empfindest du es so. Du weißt ja, dass ich …«
Sie hob die Hand. »Ich weiß. In deinen Augen ist er nicht der Richtige für mich, aber genau das muss ich von ihm hören.«
»Britta und ich, wir sind immer so weit voneinander entfernt gewesen wie Sonne und Mond. Sie hat mich als Frau gereizt. Auch als Mensch, weil sie so ungewöhnlich ist. Dass sie die falsche Partnerin für einen Mann wie mich ist, der eine ganz normale Familie haben will, habe ich erst nach unserer Blitzhochzeit festgestellt. Ich kann ihr noch nicht einmal böse sein, dass sie im sprichwörtlichen Sinne keine gute Mutter und Ehefrau war. Sie ist nicht für diese Rollen geschaffen. Sie hat es versucht. Das muss ich ihr hoch anrechnen. Sie hat mich geheiratet und die Zwillinge bekommen, aber sie war unglücklich. Letztendlich genauso wie ich. Also …«
Amelie hatte ihm gerührt zugehört. Mit feuchten Augen nickte sie.
»Ich freue mich für dich, dass du mit eurer Situation Frieden geschlossen hast. Wie heißt es? In jedem Ende steckt ein neuer Anfang.«
Da strich ihr Jonas sanft über die Wange.
»Das gilt auch für dein Leben –, sollte das Gespräch mit Torsten Richter anders verlaufen, als du es dir erhoffst.«
Auch an diesem Tag überzog Dr. Brunner, wie so oft, seine Nachmittagssprechstunde, sodass der Kaffee auf dem Terrassentisch kalt geworden war. Als der Landarzt nach Hause kam, überraschte ihn seine Frau stattdessen mit einem orangefarbenen Cocktail.
»Etwas Alkoholisches?«, fragte er in freudiger Erwartung.
Ulrikes Cocktailmischungen konnten sich sehen lassen. Sie machten den Kreationen eines hochdekorierten Barkeepers locker Konkurrenz.
»Noch nicht um diese Uhrzeit, mein Schatz. Nur Vitamine«, entgegnete seine Frau streng.
»Dann bin ich ja zu früh«, scherzte er.
»Sehr witzig. Prost.«
Nachdem sie sich trotz der Vitamine zugeprostet hatten, fuhr Ulrike fort: »Lump wartet schon seit einer Stunde auf dich.«
Wie zur Bestätigung streckte der Deutsche Drahthaar auch prompt seine langen