John W. Vance

AUSROTTUNG (The Death 2)


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gar nicht schlimm«, hielt Tess dagegen. »Die Umgebung ist dir vertraut, und das wird dir bestimmt gut tun.« Sie begann, auf Meagans Elternhaus zuzugehen, das dritte Gebäude von ihrem Grundstück aus gesehen.

      »Nein!«, schrie das Mädchen plötzlich.

      Nun blieb Tess stehen und schaute sie verwundert an.

      »Nein, das geht nicht! Mommy und Daddy sind noch dort.«

      Jetzt verstand Tess alles. Ohne noch eine Sekunde mehr zu vergeuden, marschierte sie weiter auf das größere Nachbarhaus zu. Geräumigkeit mochte zwar eine Rolle spielen, doch sie hoffte inständig, es befinde sich in einem brauchbaren Zustand.

      Nachdem Devin sie eingeholt hatte, fragte er: »Wohin willst du?«

      »Dieses Haus ist besser, dort ist mehr Platz«, erwiderte sie, während sie rasch an den stehengelassenen Autos in der Einfahrt vorbeiging. »Bitte sieh dir die Tür an.«

      Während sich Tess und Devin dem Haus näherten, schaute Brianna von der Heckklappe des Humvees aus neugierig zu.

      Die Knaben, die auf der Straße geblieben waren, bedachten sie nur mit kurzen Blicken, weil sie immer noch mit dem Essen der Feldrationen zugange waren.

      Devin lief die lange Eingangstreppe hinauf und blieb vor der Tür stehen. Auch sie war beschädigt, der Knauf mitsamt einem Teil des Holzes war am Querriegel abgebrochen – ein eindeutiges Zeichen dafür, dass jemand die Tür eingetreten hatte. Als Devin sie aufstieß, offenbarte sich ihm ein ähnlicher Anblick wie in Tess’ Heim: Alte, persönliche Gegenstände lagen kaputt am Boden verstreut, doch das Haus befand sich insgesamt in einem besseren Zustand, was ihn überraschte. Er brauchte nicht lange, um sich zu vergewissern, dass die Luft in allen Zimmern rein war, und kehrte dann zur Tür zurück, wo Tess auf grünes Licht von ihm wartete.

      »Alles leer. Das zweite Schlafzimmer links sieht perfekt aus«, meinte er und machte eine Handbewegung den langen Flur hinunter.

      Sie rauschte an ihm vorbei. Als sie den Raum betrat, verstand sie, was Devin damit gemeint hatte: Die Wände waren rosa gestrichen und mit Postern beklebt, die Kätzchen und Regenbogen zeigten. Sie dachte an das Mädchen, das hier gelebt hatte, allerdings nur flüchtig.

      Tess legte Melody behutsam auf das Bett und wollte sie gerade zudecken, als sie zögerte.

      »Devin bring mir bitte frisches Wasser, Seife, einen Waschlappen – und Ibuprofen!«

      Devin lief wieder nach draußen.

      »Liebes, sei so gut und suche einen Schlafanzug in der Schublade dort aus«, wies Tess Meagan an.

      Das Kind fand ein langes Nachthemd, auf dessen Vorderseite eine Prinzessin gedruckt war. »Hier.«

      »Super«, erwiderte Tess und begann dann, Melody auszuziehen. Während sie das Mädchen aus den dreckigen Kleidern schälte, war sie entsetzt wegen ihrer schlechten Verfassung und der mangelnden Hygiene.

      Gerade als sie das letzte Stück ausgezogen und beiseite geworfen hatte, kehrte Devin mit allem zurück, was er hatte besorgen sollen.

      »Wie geht es ihr?«, fragte er.

      Tess antwortete nicht, weil sie befürchtete, Meagan damit zu beunruhigen. Darum sah sie Devin lediglich an und verzog ihr Gesicht.

      »Wie kann ich helfen?«, fuhr er fort.

      Sie schaute ihn wieder an. »Richte dich schon einmal hier ein. Wir werden in absehbarer Zeit nirgendwohin gehen.«

      Devin nickte und verließ den Raum wieder.

      ***

      Tess schloss sanft die Tür und ging ins Wohnzimmer, das sauber und aufgeräumt war, wie sie angenehm verwundert feststellte. In der Stunde, die vergangen war, seit sie Melody gewaschen und verarztet hatte, hatte Brianna saubergemacht.

      »Sieht toll aus«, meinte Tess.

      »Ich hatte Hilfe.« Brianna zeigte auf Meagan.

      »Wo ist Dev?«, fragte Tess.

      »Vor dem Haus«, antwortete Brianna. »Er schiebt Wache.«

      Tess ging zur Tür, blieb aber noch einmal kurz stehen, um Meagan zu umarmen.

      Das Mädchen schmolz unter der zärtlichen Berührung geradezu dahin und erwiderte die Geste, wobei sie ein »Danke« ins Ohr der Erwachsenen flüsterte.

      »Keine Ursache, Maus«, wisperte Tess zurück. Sie drückte Meagan noch einmal fest und verließ dann das Haus.

      Devin hockte dort wie ein Raubvogel und überwachte die Umgebung mit dem Ar-15 auf seinem Schoß. Das Licht der Nachmittagssonne fiel schräg auf ihn ein, sodass er einen langen Schatten gegen die Front des Hauses warf. Um seine Augen vor der Helligkeit zu schützen, trug er eine alte Mütze der New England Patriots, die er vor Wochen gefunden hatte. So lang wie jetzt war Devins dunkles Haar in seinem ganzen Erwachsenenleben noch nicht gewesen; es schaute unter der Kopfbedeckung hervor und kräuselte sich. Er hatte zwar schon in Betracht gezogen, es zu schneiden, scherte sich aber mittlerweile einfach nicht mehr darum. Genauso gleichgültig verhielt er sich bezüglich seines Bartes, der jetzt schon gut einen Viertelzoll lang war; er wuchs weniger dicht als sein Kopfhaar und war durchgehend grau meliert.

      Tess fand sein neues, herberes Aussehen attraktiver als den verängstigten, glatt rasierten Mann, den sie in Illinois kennengelernt hatte.

      »So, jetzt kann sie erst einmal ruhig schlafen. Hoffentlich geht es ihr bald besser, wenn sie nicht mehr in diesem Drecksloch sitzen muss«, sagte Tess.

      Devin blickte auf und grinste. »Ich wollte vorhin schon fragen, aber der Zeitpunkt schien nicht so passend: Diese Mädchen werfen unseren Plan über den Haufen, hab ich Recht?«

      »Rutsch mal rüber«, bat Tess.

      Devin machte Platz, damit sie sich neben ihn auf die Holzstufe setzen konnte.

      »Ja, der Plan hat sich geändert. War natürlich nicht meine Absicht, aber wie hätte ich diese kleinen Mädchen alleinlassen können?«

      »Ich sage ja gar nichts dagegen. Jeder – nicht nur du – wäre ein Unmensch, wenn er sie dem Herrn der Fliegen vorwerfen würde.«

      »Herr der Fliegen?«, hakte Tess verwirrt nach.

      Er neigte überrascht den Kopf zur Seite. »Du kennst das Buch nicht?«

      »Sollte ich denn?«

      »Wie alt bist du noch gleich?«

      »Hör auf. Worum geht es darin denn?«

      »Was habt ihr denn in der elften oder zwölften Klasse in amerikanischer Literatur gelesen?«

      »Weiß ich nicht mehr.«

      »Herr der Fliegen ist ein Roman über eine Gruppe Jungen, die auf einer Insel stranden. Sie gründen so etwas wie eine eigene Gesellschaft, in der es allerdings bald gewalttätig und barbarisch zugeht.«

      »Jetzt verstehe ich.«

      »Was zum Teufel sollte das übrigens vorhin?«

      »Was genau meinst du?«

      »Dass du ihnen etwas zu essen gegeben und versucht hast, mit Hannibal Lecters Sohn zu verhandeln.«

      »Diese Anspielung kapiere ich«, entgegnete sie lachend. »Das, mein Freund, bedeutet, die Initiative zu ergreifen, bevor eine Situation entgleisen kann.«

      »Du weißt genauso gut wie ich, dass diese Bengel nur Ärger stiften.«

      »Da hast du Recht, aber ich glaube nicht, dass sie so heimtückisch sind wie die verdammten Kannibalen, mit denen wir uns herumgeschlagen haben«, relativierte Tess.

      »Das ist jetzt nicht erfunden, ich habe mal eine Doku zur Apokalypse auf dem Discovery-Channel gesehen … oder war’s der History-Channel? Wie dem auch sei, da diskutierten Fachleute über die Reaktion der Menschen auf exakt die gleichen Verhältnisse, die wir nun erleben. Jedenfalls kam da auch das Thema Kinder zur Sprache,