haben aber nichts angerichtet!«, protestierte Thomas, während Ulrike nun doch mit den Tränen kämpfte. »Und dass ihr euren Eltern großen Kummer bereitet habt, ist das nichts?«
»Ich habe keine Eltern, ich habe nur eine Mutti«, warf Ulrike weinerlich ein.
»Aber der Onkel Alois will ihr Vati sein, und das will meine Mutti nicht«, erklärte Thomas erzürnt. »Meine Eltern sind froh, dass sie mich los sind. Sie haben jetzt das Baby.«
»Das redest du dir nur ein, Thomas«, entgegnete Nicolas ruhig. »Deine Mutti war sehr traurig, weil du Ulrike lieber hast als dein Schwesterchen. Es ist doch ein kleines, hilfloses Wesen, das man lieb haben muss.«
»Es hat mich auch nicht lieb. Es schreit bloß immer«, sagte Thomas bockig.
»Es kann dir noch nicht zeigen, dass es dich lieb hat, aber wenn es größer ist und sprechen kann, wird es ganz anders sein. Du musst natürlich auch etwas dazu beitragen. Es ist doch schön, wenn man Geschwister hat.«
»Wenn sie größer sind«, räumte Thomas mit seiner eigenen Logik ein. »Ich bin schon so groß, und das Baby ist noch so klein.«
»Gerade weil du so viel größer bist, musst du es beschützen.«
»Das kann ich ja gar nicht. Mutti lässt mich doch nicht ran«, beharrte er.
Ja, es waren auf beiden Seiten Fehler gemacht worden. Jenny Frenzel hatte nicht bedacht, dass Thomas einen seelischen Knacks bekommen könnte, wenn das Baby nun eine bevorzugte Stellung einnahm. Mit den Worten: »Er wird sich schon daran gewöhnen«, war es nicht getan.
Immer wieder machten Eltern den Fehler, ihre Kinder nicht ernst zu nehmen, und in diesem Fall hätte es zu einer Katastrophe führen können.
»Nun passt mal auf, ihr beiden. Heute Nachmittag holt euch der Onkel Alois ab, und dann macht ihr einen Ausflug mit ihm. Er wird euch erklären, wie es in Zukunft weitergehen soll.«
»Da wird Mutti aber schön schimpfen«, sagte Thomas.
»Sie wird nicht schimpfen. Sie ist einverstanden.«
»Auch damit, dass Onkel Alois Ulrike mitnimmt?«, staunte Thomas.
»Auch damit.«
Die Miene des Jungen drückte größte Skepsis aus.
»Das werden wir ja sehen«, meinte er trotzig.
*
Nicolas wusste auch schon, welches Ausflugsziel er Alois Frenzel vorschlagen wollte. Die Felsenburg!
Vorsichtshalber fragte er noch bei Magnus von Roth telefonisch an, ob sie heute zu besichtigen wäre und ob vielleicht Bambi mit ihrem bewährten Instinkt ein wenig Hilfestellung leisten könnte.
Thomas und Ulrike zweifelten noch immer daran, dass es so kommen würde, wie Dr. Allard es ihnen versprochen hatte. Heute brauchten sie nun keine Schmerzen vorzuschützen, aber diesmal nahm ihnen die Aufregung den Appetit.
»Es wird höchste Zeit, dass sie wieder in normale Verhältnisse kommen«, stellte Nicolas fest, »sonst werden sie tatsächlich noch Neurotiker. Man kann sich nämlich so in eine Rolle hineinleben, dass man später gar nicht mehr anders kann.«
Auch die Reaktion der Kinder, als Alois Frenzel kam, schien ein Beweis für diese Theorie zu sein.
Thomas klammerte sich an ihn und betätschelte sein breites, gutmütiges Gesicht, und Ulrike begann herzzerreißend zu schluchzen. Die Spannung löste sich. Endlich zeigte sich wieder ein Lächeln auf den Kindergesichtern.
»Bist du allein?«, fragte Thomas. »Ganz allein. Wir müssen uns nämlich über manches unterhalten«, erwiderte Alois Frenzel.
»Bringst du mich dann gleich nach Hause?«, erkundigte sich Thomas.
»Es wird sich alles finden.«
Er war die Ruhe selbst, dieser Alois Frenzel, und Nicolas war guter Dinge, als er ihn und die beiden Kinder, die sanft wie Lämmer waren, zum Tor begleitete.
Auf ihn wartete jetzt ein gemütliches Kaffeestündchen mit Sabine, Lisa, Jill, Michael und André. So dachte er wenigstens. Aber kaum hatte er sich niedergesetzt, wurde er ans Telefon gerufen.
»Dein erster Fall«, sagte er zu André, als er zurückkam. »Ein Kind ist vom zweiten Stockwerk aus dem Fenster gestürzt.«
»Hat es sich sehr wehgetan?«, fragte Jill ängstlich.
»Das müssen wir erst mal sehen«, erklärte Nicolas.
Nun begann die richtige Arbeit in der Sternsee-Klinik, und das an einem Sonntagnachmittag.
»Jetzt bekommst du gleich einen Vorgeschmack, was dir als Arztfrau blüht«, raunte Nicolas Sabine zu.
*
Es war selbstverständlich, dass Bambi zur Stelle war, wenn ihr Opi zur Felsenburg ging. Auch Hannes schloss sich an, weil ihm langweilig war.
Jonny, der sich eben noch faul gerekelt hatte, war auch gleich zur Stelle, als sie aufbrachen.
»Es ist ja alles ganz gut und schön«, meinte Hannes, »aber aus purer Freundschaft können wir die Felsenburg auch nicht herzeigen. Wir müssen jetzt mal ein Eintrittsgeld festlegen.«
»Die Leute stecken doch alle was in die Büchse, wenn sie kommen«, sagte Bambi versöhnlich. »Sie ist schon ganz schön voll.«
»Aber kontrollieren kann man es nicht, ob es nicht manchmal nur ein Zehnerl ist. ’nen Euro könnten wir schon verlangen.«
»Mach es nicht gleich zu happig«, brummte Magnus von Roth.
»Du bist halt ein Idealist, Opi«, bemerkte Hannes. »Andere denken da viel kommerzieller. Ich habe neulich gelesen, dass einer aus seiner Burg ein Hotel gemacht hat, und da zahlen die Leute ein sagenhaftes Geld, nur um mal ein paar Tage wie die Fürsten zu wohnen. Das würde schön was abwerfen. So hundert Euro am Tag für jeden könnten da schon rausspringen.«
»Und du kochst und machst die anfallenden Arbeiten«, stellte Magnus von Roth anzüglich fest.
»Und wo wollen die Leute denn schlafen für so viel Geld?«, fragte Bambi.
»Man könnte alles ganz toll ausbauen.« Hannes ließ sich nicht irritieren.
»Dann ist es aber nicht mehr unsere Felsenburg«, sagte Bambi. »Fremde kommen jetzt schon genug her.«
Sie hatten die Felsenburg erreicht, als der Wagen mit Alois Frenzel und den Kindern die Straße heraufkam. Magnus von Roth hatte schon die schwere Eichentür aufgeschlossen.
Bambi begrüßte die beiden Kinder ohne Scheu, und da sie wusste, dass sie aus der Klinik kamen, erkundigte sie sich auch gleich, ob sie schon wieder ganz gesund wären. Darauf wurden Thomas und Ulrike ein bisschen verlegen.
»Was hat euch denn gefehlt?«, fragte Bambi unbefangen.
»Kopfschmerzen«, sagte Thomas. »Und Bauchschmerzen«, schloss Ulrike sich an.
»Und deshalb kommt ihr gleich in die Klinik?«, wunderte sich Bambi. »Ich musste nur mal ins Krankenhaus, als mir die Mandeln herausgenommen worden sind. Hannes hat auch manchmal Bauchschmerzen, aber meistens nur wenn er am nächsten Tag eine Schulaufgabe hat. Hannes ist mein Bruder.«
Thomas war leicht irritiert. Erstens, weil Bambi das so schelmisch sagte, und dann auch, weil dieser große Junge, der sich jetzt mit Onkel Alois so angeregt unterhielt, der Bruder von dem kleinen Mädchen sein sollte.
»Das ist dein Bruder?«, fragte er verwundert.
»Freilich«, erwiderte Bambi. »Das ist der Hannes. Er geht aufs Gymnasium.«
»Er ist aber viel älter als du«, äußerte Thomas nachdenklich.
»Acht Jahre, und das bleibt immer so«, stellte Bambi fest.
»Könnt ihr euch leiden?«, mischte Ulrike sich ein.
Bambi