waren ganz still geworden. Zu viel war über sie hereingebrochen, und sie wurden sich nun wohl auch bewusst, dass Lisa jetzt ihr ureigenes Leben beginnen würde, und zwar als jene, als die sie geboren worden war.
»Wenn sie nur glücklich wird«, sagte Leo Thewald leise, mit geradezu rührender Behutsamkeit die Hand seiner Frau in seinen harten Arbeitshänden haltend. »Wenn jetzt nur alles gut für sie wird. Lotte, es kann doch nicht sein, dass ihr wieder grenzenloser Schmerz zugefügt wird. Sie kann nicht nur geboren sein, um zu leiden.«
Blicklos starrte Lotte Thewald vor sich hin. Sie konnte nichts sagen. Die Kehle war ihr wie zugeschnürt.
Die kleine Jill stand in der Tür.
»Ich möchte so gern zu Lisa«, flüsterte sie. »Warum darf ich nicht zu ihr, Tante Lotte?«
Sie nannte sie Tante Lotte, weil die Naumann-Kinder sie auch so nannten. Es rief Lotte Thewald zurück in. die Wirklichkeit, in der es verschreckte Kinder gab, die noch nicht wussten, was geschehen war.
»Lisa muss sich jetzt erst beruhigen«, erklärte Leo Thewald tonlos. »Sie hat sich so sehr erschrocken.«
»Was ist denn mit Michael?«, fragte Jill scheu.
»Er ist verletzt.«
»Ist er gefallen?«
»Ja, er ist gefallen.«
War es ein Zufall, oder hatte dieser Unheimliche auf ihn gezielt?, fragte sich Leo Thewald. Langsam konnte er wieder logisch denken.
»Wer hat denn um Hilfe gerufen?«, fragte Jill zaghaft.
»Lisa«, entfuhr es Lotte Thewald. »Lisa hat gerufen.«
Jill krauste die Stirn. Staunend blickte sie die Frau an, die jetzt ihre Hände gefaltet hatte.
»Der liebe Gott hat gemacht, dass sie wieder sprechen kann?«, fragte Jill leise.
Wahnsinnige Angst hat sie gehabt, dachte Lotte Thewald, Angst um den Menschen, der ihr viel, viel mehr bedeutet als jeder andere. Mit aller Liebe und Güte hatte niemand das erreicht, was diese Angst vollbracht hatte.
Lotte Thewald ahnte, was Lisa bewegte, als sie neben Michael kniete, so hilflos und verzweifelt und mit dieser Furcht, dass er sterben könnte.
Würde er leben? War dieser Hilfeschrei aus der so lange stummen Kehle noch zur rechten Zeit gekommen? Niemand von ihnen wusste es zu dieser Stunde, in der Nicolas und André um das Leben des Freundes kämpften, kurz nachdem sie erst das Leben des kleinen Peter gerettet hatten.
Sie wussten, dass dieses Leben an einem hauchdünnen Faden hing, dass es verloren gewesen wäre, wenn Lisas Schrei nicht so rasch Hilfe herbeigeholt hätte.
Sie hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, wer das getan hatte und warum.
*
Im Sonnenwinkel hatte man diesen Schuss am Sonntagnachmittag auch für den Knall aus einem Auspuff gehalten, denn es klang anders als die vorhergehenden, dumpfer und ferner.
Es mochte auch sein, dass man weniger Notiz davon nahm, weil man überall gemütlich am Kaffeetisch saß und sich angeregt unterhielt.
Bei den Münsters saßen heute auch wieder die Heimbergs mit Tino am Tisch, nachdem Marianne Heimberg von ihrer Grippe kuriert war.
Bei den Auerbachs weilten Fabian und Ricky mit ihrem kleinen Henrik, der heute ganz besonders lebhaft war.
Ganz ruhelos aber war Jonny, der von einem zum andern schlich und mit leisem Bellen und Knurren ausdrückte, dass er hinaus wollte.
»Lass uns doch wenigstens in Ruhe Kaffee trinken, Jonny«, ermahnte ihn Bambi. »Was hast du denn bloß?«
Er sprang an der Tür hoch und drückte die Klinke herunter.
»Du wirst auch immer frecher«, sagte Bambi. »Nachher gehen wir ja noch ein Stück. Jetzt benimm dich aber!«
Er bellte nun laut. Hannes erhob sich. »Er hat doch was«, bemerkte er. »Er verbellt was.« Und wenig später rief er: »Deinen Mantel verbellt er, Opi. Wo warst du denn damit?«
Nun ging auch Magnus von Roth in die Diele, wo sein Mantel hing, und Bambi folgte ihm.
Jonny benahm sich ganz absonderlich. Immer wieder sprang er an dem Mantel hoch.
»Suchst du etwa den?« Magnus von Roth zog den Handschuh aus der Tasche. »Liebe Güte, ich hätte ihn beinahe vergessen.«
»Was ist das für ein Handschuh?«, fragte Bambi.
»Jonny hat ihn im Wald gefunden. Es ist schon länger her, ich habe den Mantel seitdem nur nicht angehabt.«
Jonny beruhigte sich aber durchaus nicht. Jetzt winselte er an der Haustür.
»Das ist schon sehr merkwürdig«, äußerte Magnus von Roth. »Nun, ich denke, da muss ich wohl doch mal nachsehen.«
»Wohin willst du, Papa?«, rief Inge Auerbach von drinnen. »Lass doch Jonny in den Garten.«
»Er ist so verrückt mit dem alten Handschuh«, erklärte Bambi. Doch das genügte, dass auch Werner Auerbach aufsprang.
Sonst hatte er wahrhaftig nicht das beste Gedächtnis, aber um den Handschuh waren seine Gedanken jeden Tag gekreist, mehr noch als die seines Schwiegervaters.
»Diese Männer«, stöhnte Teresa von Roth.
Inge schrak zusammen. Ihre Gedanken waren eben auch fern gewesen.
Ein seltsamer Ausdruck war in ihren Augen, als sie sich ebenfalls erhob.
»Es liegt etwas in der Luft«, bemerkte sie gedankenvoll. »Bambi, du bleibst hier!«
Aber Bambi war schon längst draußen.
*
»Ich werde mir jetzt mal ein bisschen die Beine vertreten«, sagte Felix Münster zur gleichen Zeit zu seiner Frau. »Kommst du mit, Sandra?«
Manuel spielte mit Tino Mühle, und dabei ließen sie sich nicht stören.
Marianne und Carlo genossen es, die Zwillinge mal wieder auf den Knien zu schaukeln, wovon sie gar nicht genug bekommen konnten. Und Felix Münster freute sich über jede ruhige Minute, die er mit seiner Frau genießen konnte.
Wie hätten sie auch ahnen sollen, welch dramatischen Verlauf dieser Nachmittag noch nehmen sollte. »Gehen wir lieber am See entlang«, schlug Sandra vor. »Im Wald ist es mir zu unheimlich.«
»Auch dann, wenn ich bei dir bin?«, fragte Felix scherzend. Aber er gab ihr gern nach.
»Im ›Seeblick‹ ist immer mächtiger Betrieb am Sonntag«, stellte Sandra fest, als sie den voll belegten Parkplatz bemerkte. »Es rentiert sich doch.«
»Aber es wird unangenehm, wenn die Leute ihre Wagen auch in unserem Wald abstellen«, sagte Felix verärgert.
»Das tun sie doch nicht«, meinte Sandra.
»Und was ist das da?« Er deutete auf einen grauen Wagen, der zwischen den Bäumen hervorlugte.
»Ach, das ist mal eine Ausnahme«, entgegnete Sandra leichthin.
Im gleichen Moment startete der Wagen. Doch der Weg war ihm verbaut, denn eben wollte eine dunkle Limousine in anderer Richtung losfahren. Es war der Wagen von Alois Frenzel, was Sandra aber nicht wissen konnte. Sie hatte ihr Augenmerk auch nur auf den grauen Wagen gerichtet und stieß einen erschreckten Schrei aus.
»Sillberg! Das ist doch Sillberg!«, sagte sie tonlos.
Felix war irritiert. Aber nun erkannte er den Mann auch. Es war tatsächlich Hasso von Sillberg.
Zwischen ihm und Alois Frenzel entspann sich schon ein Disput, in dem Onkel Alois bewies, dass er auch nicht immer die Gelassenheit in Person war. In kriegerischer Haltung ging er auf Hasso von Sillberg zu. Felix sah es.
»Ich möchte doch zu gern wissen, was der Kerl hier verloren hat«, äußerte