es nicht doch zu viel, was er ihr zumutete? War es nicht unverzeihlich, ihr so viel abzuverlangen?
»Wir können ein andermal darüber sprechen«, sagte er. »Verzeih, Kleines.«
»Nein, ich will es wissen! Es ist doch ständig in meinen Gedanken. Ich sitze an Michaels Bett und denke nach. Und ich kann keine Zusammenhänge finden. Sage es mir, Nicolas! Es hat mich doch auch früher schon gequält, aber ich konnte keine Fragen stellen.«
»Deine Mutter kam damals ums Leben, Lisanne. Ja, Lisanne bist du getauft worden, Lisanne de Chantelle. Dein Vater brach zusammen, als er von dem Unglück hörte. Er wusste nicht, dass du gerettet worden warst. Er hat deine Maman sehr geliebt und wollte ohne sie nicht leben. Er ahnte nicht, dass seine kleine Tochter allein zurückbleiben würde. Gräfin Josette, deine Patin, brachte dich zu den Thewalds, weil sie hoffte, dass du in einer anderen Umgebung den Schock überwinden würdest.«
Er hatte schnell gesprochen, damit nicht jedes Wort gleich in ihr Bewusstsein dringen würde. Und alles begriff sie auch nicht, nur eines.
»Dann sind Vater und Mutter gar nicht meine richtigen Eltern?«, fragte sie.
Er zögerte. »Sie haben sich bemüht, dir deine Eltern zu ersetzen«, erklärte er. Was würde sie darauf nun wohl erwidern?
»Ich habe sie lieb«, sagte Lisa bebend. »Sie werden doch nicht denken, dass ich sie weniger lieb habe, jetzt …«
Sie konnte nicht mehr weitersprechen. So wie früher, wenn sie sich ihrer Hilflosigkeit bewusst wurde und nicht ausdrücken konnte, was sie fühlte, legte sie ihren Kopf an seine Schulter.
»Sie müssen doch wissen, dass ich sie immer lieb haben werde«, schluchzte sie auf.
»Darüber werden sie sehr glücklich sein, Lisanne«, meinte er voller Wärme. »Ich habe nie daran gezweifelt, dass du so fühlen würdest, auch wenn du unter deinem richtigen Namen ein neues Leben beginnst. Davon abgesehen, dass du sicher bald einen anderen tragen wirst«, fügte er nachdenklich hinzu. »Die Comtesse de Chantelle braucht aber keine Angst zu haben, dass sie Michael von Jostin nicht ebenbürtig sein wird.«
»Kannst du in mich hineinschauen, Nicolas?«, fragte sie staunend. »Wieso weißt du, was ich denke?«
»Ich kenne dich schon so lange, und ich habe gelernt, in deinen Augen zu lesen.«
Sie schwieg, und er ließ ihr Zeit. Er hatte etwas ganz anderes mit ihr besprechen wollen, und nun hatte sich ihr eigenes Schicksal in den Vordergrund gedrängt. Doch sie vergaß Jill nicht darüber.
»Du hast von Jills Mutter gesprochen, Nicolas«, bemerkte sie nach diesem gedankenvollen Schweigen. »Es ist wohl wichtiger als ich.«
Das war die Lisa, die jeder lieben musste, weil sie sich selbst niemals wichtig genommen hatte, die so unendlich viel Liebe zu verschenken hatte.
»Jene Frau, die mit Jills Vater bei dem Unglück ums Leben kam, war seine zweite Frau, wenn alles, was in diesem Brief steht, Gültigkeit hat. Er ist mit dem Kind kurz vor der Scheidung auf und davon gegangen, weil er wusste, dass es der Mutter zugesprochen würde. Aber lies es selbst, Lisanne, wenn du ruhiger geworden bist. Ich habe dir ein bisschen sehr viel zugemutet.«
Sie lächelte zu ihm empor, dieses hinreißende Lächeln, das sie schon früher unwiderstehlich machte und auf das Sabine so eifersüchtig gewesen war.
»Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, erklärte sie. »Du hast es mir immer wieder gesagt, Nicolas. Ich habe dir so viel zu verdanken. Ich werde den Brief lesen, wenn ich wieder an Michaels Bett sitze, aber sprich du bitte mit Jill. Du kannst das viel besser als ich.«
*
Wahrscheinlich musste alles so kommen, dachte Nicolas, als er zum Verwalterhaus ging. Tante Josettes Testament, das ihnen konkrete Entscheidungen abverlangte, die dann zur Folge hatten, dass Sabine ihre Verlobung mit Hasso von Sillberg löste. Dann dieses Autobusunglück, das die verwaisten Naumann-Kinder ins Haus brachte, die nun ein neuer Lebensinhalt für die Thewalds wurden, wenn Lisanne eines Tages mit Michael fortging. Dass es so kommen würde, bezweifelte er nicht. Dann Lisannes Aufenthalt in Dr. Valderes Sanatorium, auf den er selbst alle Hoffnungen setzte und der am Ende Michael und Lisa zusammenführte und sie beide mit der kleinen Jill, um die es jetzt ging.
Verworren waren die Fäden des Schicksals, fein gesponnen und manchmal ein undurchdringliches Netz, in dem sie gefangen wurden.
Auch Hasso von Sillberg hatte eine Rolle dabei gespielt, die bedeutungsvoll für das Gute geworden war, wenngleich er nur Böses beabsichtigt hatte. Durch seine Tat hatte Lisa die Sprache wiedergefunden!
Unerforschlich war der weise Ratschluss des Allmächtigen, der über ihnen herrschte, unantastbar und in vielem nicht begreiflich. Erst die Jahre, die vergingen, brachten die Erkenntnisse, wie das zu bewerten war, was manchmal so elementar in ihr Dasein eingriff.
Er fand Jill, unbefangen mit den drei Kindern spielend und nicht ahnend, wie ein Zufall auch in ihr kleines Leben eingriff, ein Zufall, den auch göttlicher Wille herbeigeführt haben musste.
Auch wenn man von einem Zufall sprach, musste man schon andere mit einbeziehen, denn nie wäre Jill an jenem Tag an den Genfer See gekommen, wenn nicht das Unglück geschehen wäre, wenn Michael sie nicht zu Valdere gebracht und sie dort Lisa gefunden hätte.
Es war eine Kette, die sich eines Tages zu einem Kreis schließen würde. So, wie es von einer weisen Vorsehung bestimmt war!
*
Jill war gar nicht betroffen, als Nicolas sie in den Arm nahm und ihr sagte, dass er sich mit ihr unterhalten wolle. »Weißt du jetzt, wo der Seerosenteich ist«, fragte sie, »und das Haus mit den Blumen?«
»Vielleicht wirst du es bald wiedersehen, Jill«, entgegnete Nicolas. »Wünschst du dir das?«
»Die Granny möchte ich gern wiedersehen. Ist sie noch in dem Haus?«
Wenn sie sich an die Granny erinnerte, musste sie sich doch auch an ihre Mutter erinnern können! Warum sprach sie nicht von ihr?
»Und deine Mami, Jill?«, fragte er gedankenvoll.
»Dad hat gesagt, sie kommt nie mehr zu mir, weil sie mit einem anderen Mann weggegangen ist. Darum ist Janet mit uns gefahren. Dad hat immer gesagt, dass Janet nun meine Mami sei, aber sie war nicht lieb mit mir. Sie wollte, dass Dad mich zu Mami bringt. Weißt du, was sie an dem Abend getan hat?«
»Nein, das weiß ich nicht, Jill.«
»Willst du es wissen?«
»Wenn du es mir erzählen willst?«
»Sie war wütend«, berichtete Jill. »Sie war oft wütend. Ich habe es satt, hat sie gesagt. Schick Jill zu ihrer Mutter, hat sie auch gesagt. Und dann hat sie mich gestoßen, und ich bin aus dem Wohnwagen gefallen. Und dann habe ich mich versteckt, weil ich solche Angst hatte und sie immer noch so geschimpft hat.«
Und das hatte Jill das Leben gerettet, damit eine unglückliche Mutter nun bald ihr so lange entbehrtes Kind in die Arme schließen konnte.
»Deine Mami hat Sehnsucht nach dir, Jill«, bemerkte er. »Woher weißt du das?«
»Weil sie es mir geschrieben hat.«
»Aber sie ist doch mit einem Mann weggegangen.«
»Dieser Mann wird dich sehr lieb haben.«
»Streitet er nicht mit Mami, wie Janet mit Dad?«
»Nein, er möchte, dass du zu ihnen kommst, damit deine Mami wieder lachen kann.«
»Ich möchte aber lieber Granny wiedersehen«, sagte Jill zaghaft.
»Du wirst sie bald wiedersehen«, versprach er.
»Und das Haus und den Seerosenteich auch?«, fragte sie aufgeregt.
Davon hatte Manja Bürkle nichts geschrieben. Aber Nicolas hoffte, dass auch dieser heiße Wunsch des Kindes in Erfüllung gehen möge.
»Wir