gelesen und auch das, was zwischen den Zeilen stand, begriffen. Ihr Blick ruhte noch immer auf dem Briefbogen.
»Sprich mit mir, Lisanne«, tönte Michaels Stimme an ihr Ohr. »Ich habe geträumt, dass du mit mir gesprochen hast.«
Der Bogen entglitt ihren Händen. Sie neigte sich zu ihm herab. Ihre Lippen legten sich an sein Ohr.
»Du hast es nicht geträumt, Michael. Ich habe mit dir gesprochen. Du bist wieder eingeschlafen.«
»Jetzt bin ich wach. Ich sehe dich, ich fühle dich, ich höre dich. Und du sagst, es ist kein Traum.«
Er wollte seine Hand heben, aber mit einem leisen Stöhnen ließ er sie zurücksinken.
»Nicht bewegen!«, sagte sie erschrocken. »Oh, ich bin eine schlechte Krankenpflegerin.«
»Wieso bin ich krank?«, fragte er. »Weißt du nicht, was geschehen ist?«
»Nein! Oder doch? Ich wollte mit dir spazieren gehen, Lisanne.«
Das war schon fast eine Woche her, aber für ihn war die Zeit zusammengeschmolzen. Er wusste nicht, dass man tagelang um sein Leben gebangt hatte.
»Da war doch etwas mit einem Kind, das aus dem Fenster gestürzt war«, erinnerte er sich.
»Ja, es geht dem kleinen Peter schon wieder ganz gut«, bemerkte sie.
Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn.
»Aus dem Fenster bin ich jedenfalls nicht gefallen«, sagte er ironisch. »Es war … Allmächtiger! Nein, das kann nur ein Albtraum gewesen sein.«
Lisanne wusste, dass er sich erinnerte und dass er Hasso von Sillberg gesehen haben musste.
»Grüble nicht, Michael«, bat sie. »Du musst erst gesund werden.«
»Aber versteh doch, Lisanne, es war Sillberg! Er rennt hier mit einem Gewehr herum, und er hat auf mich geschossen!«
»Er wird nicht mehr herumrennen und schießen. Er ist tot«, erklärte sie. »Jetzt wird hier wieder Frieden sein, und du wirst gesund werden, Michael.«
»Ich begreife so vieles noch nicht«, sagte er stöhnend.
»Es ist auch schwer, das zu begreifen, aber …«
Sie hielt inne, denn die Tür tat sich auf. Es war André.
»Entschuldigt bitte, aber du wirst dringend benötigt, Lisa. Jills Angehörige sind gekommen.«
Lisanne fing einen bestürzten Blick von Michael auf.
»Auch das werde ich dir später erklären«, versprach sie.
»Das kann ich ja tun, während ich Michael Gesellschaft leiste«, meinte André lächelnd.
*
Nicolas wartete auf Lisanne.
»Ich habe mit Jill gesprochen und ihr erklärt, was in dem Brief stand. Es ist aber wohl doch besser, wenn du jetzt bei ihr bist. Sie hat bestimmte Vorstellungen von ihrer frühen Kindheit, und noch weiß man nicht, ob sie sich erfüllen.«
»Wo sind sie?«, fragte Lisanne.
»Bei Sabine, Jill ist noch hier.« Unbefangen lachte das Kind Lisanne an.
»Der Nicolas hat mir eine schöne Geschichte erzählt, Lisa«, sprudelte es über ihre Lippen. »Hast du jetzt Zeit? Kann ich sie dir auch erzählen?«
»Wir gehen jetzt mal zu Sabine«, sagte Lisa.
»Dann kann ich sie ihr auch gleich erzählen. Sabine ist jetzt immer so traurig. Was hat sie denn?«
»Sie hat sich große Sorgen um Michael gemacht.«
»Du aber auch.« Sie trippelte neben Lisa her und plauderte unbekümmert. »Meine Mami hat Sehnsucht nach mir. Es stimmt gar nicht, dass sie nichts von mir wissen will. Nicolas hat es mir erzählt. Ich weiß gar nicht mehr richtig, wie meine Mami aussieht. Ist das schlimm, Lisa?«
Nun würde sie sie bald wiedersehen, und Lisa fragte sich, wie sie dann reagieren würde.
Sie hatte ein wenig Angst vor dieser Begegnung, der sie mit jedem Schritt näher kamen. Geschah das nicht zu überstürzt? Aber konnte man einer Mutter, die ihr Kind Jahre vermisst und schmerzlich gesucht hatte, verdenken, dass sie keinen Tag mehr verstreichen lassen wollte?
»Es ist so schön, dass du sprechen kannst, Lisa«, sagte Jill. »Dann kann ich doch mal mit dir telefonieren, wenn ich bei meiner Granny bin. Du bleibst doch meine allerliebste Lisa.«
Bis die Liebe der anderen mich verdrängt, dachte Lisa. Aber das war kein wehmütiger Gedanke. Jill hatte eine Mutter, und es war nur gerecht, wenn sie nun den ersten Platz im Herzen ihres Kindes einnehmen würde.
Doch schon im nächsten Moment kamen Lisa bange Zweifel, dass dies so sein würde, denn Jill blieb plötzlich stehen und blickte intensiv zu dem breiten Fenster von Sabines Wohnraum, an dem eine weißhaarige Dame stand.
Ein spitzer Schrei löste sich aus ihrer Kehle.
»Granny!«, rief sie dann. »Das ist meine Granny!«
Sie riss sich los von Lisas Hand und begann zu laufen. Und als sie das Haus erreicht hatte, tat sich auch schon die Tür auf, und Jill wurde liebevoll von zwei Armen aufgefangen. Doch es war ein junges Gesicht, umgeben von braunen Haaren, das sich zu ihr herabneigte.
Lisa blieb zurück. Ihr Herz klopfte schnell und in banger Erwartung.
»Mein Kind, meine geliebte kleine Jill«, flüsterte Manja Bürkle bebend.
»Früher hast du immer Jennifer gesagt, Mami. Jetzt erkenne ich dich doch wieder«, sagte Jill.
Der Bann war gebrochen, wenngleich Jill keine Zeit hatte, sich schon jetzt länger mit ihrer Mutter zu befassen, denn in der anderen Tür stand ihre Granny, der Tränen des Glücks über die Wangen rannen.
»Wohnst du noch in dem Haus mit den vielen Blumen, Granny?«, fragte Jill atemlos. »Hast du den Seerosenteich noch?«
»Ja, mein Liebling«, antwortete die alte Dame. »Alles wartet darauf, dass du wieder heimkommst.«
Und noch jemand wartete, dass Jill auch Notiz von ihm nehmen würde, Donald Bürkle, der sich bis jetzt ganz im Hintergrund gehalten hatte.
Er musste sich in Geduld fassen, und vielleicht würde es auch noch einige Zeit brauchen, bis Jill ihn in ihr Leben einbezog.
Jill sah ihn forschend an und schenkte auch ihm dann ein Lächeln, das ihn ahnen ließ, dass er nicht lange auf die Zuneigung würde warten müssen.
*
Nicht nur von dieser dramatischen Familienzusammenführung war Michael von André unterrichtet worden, sondern auch davon, wie Lisa ihre Stimme wiedergefunden hatte.
»Die Angst um dich hat vollbracht, worum Nicolas in all den Jahren vergeblich gerungen hat«, sagte er. »Du verdankst diesem Umstand dein Leben, Michael.«
»Es gehört Lisanne«, äußerte Michael gedankenvoll. »Ich möchte mit ihren Eltern sprechen.«
Dass noch mehr Überraschungen auf ihn warteten, sollte Lisanne ihm selbst erzählen. Sie ließ sich Zeit damit.
Von Tag zu Tag hatte sich die Klinik mehr und mehr gefüllt. Auch sie konnte sich jetzt nicht ausschließlich um Michael kümmern.
Jill war in den Schoß ihrer Familie zurückgekehrt. Ein paar Tränen waren schon geflossen, als sie von ihrer Lisa Abschied nahm, die versprechen musste, sie in dem Haus am Seerosenteich zu besuchen.
Andere kleine Patienten wollten nun betreut werden, und bis das Pflegepersonal vollständig war, mussten Lisa und Sabine tüchtig zugreifen.
Alle Befürchtungen, dass Hasso von Sillbergs unheilvolles Treiben einen Schatten auf den Beginn in der Sternsee-Klinik werfen würde, erwiesen sich als überflüssig. Nur die Eingeweihten wussten um die Hintergründe, die anderen glaubten