bist mein Freund, Nicolas. Du warst immer mein Freund. Ich will nur, dass er gesund wird, sonst nichts. Wer hat das getan? Wer kann so gemein sein?«
Sie verbarg ihren Kopf in den Kissen und schluchzte leise.
Nicolas sah Sabine an. Ihr Mienenspiel verriet, wie erschüttert sie war. Er gab ihr unauffällig einen Wink.
»Ich muss nach dem kleinen Peter sehen«, raunte er ihr zu. »Bitte, bleib bei Lisa.«
Es hätte dieser Aufforderung nicht bedurft. Sabine hätte das Mädchen in seinem Schmerz nicht allein gelassen, dieses rührende Geschöpf, das ihren Bruder so liebte.
Sie nahm die schmale Hand und streichelte sie.
»Michael wird wieder gesund werden, Lisa«, sagte sie tröstend.
*
Leo Thewald merkte nicht, dass Nicolas nahte. Er stand noch immer auf dem gleichen Platz und dachte daran, was Alois Frenzel gesagt hatte.
»Ich kann es nicht glauben«, sprach er vor sich hin.
Nicolas legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Es war für uns alle ein großer Schrecken«, äußerte er begütigend, »aber Lisa kann sprechen, und das wird so bleiben, Herr Thewald.«
Blicklos starrte der Mann ihn an. »Der Sillberg ist es gewesen«, murmelte er. »Sie haben ihn gefasst. Herr Frenzel war dabei. Sie nehmen die Kinder mit nach Hause.«
Monoton kamen die Worte über seine Lippen. Nicolas glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
»Was sagen Sie da?«, stieß er hervor.
»Der Sillberg war’s«, wiederholte Leo Thewald. »Er hat geschossen.«
Die Worte, so leise sie gesprochen waren, dröhnten in Nicolas’ Ohren, und es war ihm, als käme das Echo immer wieder von den Wänden zurück. Gewaltsam nahm er sich zusammen.
»Sprechen Sie mit niemandem darüber, bis es bestätigt ist«, sagte er heiser. »Und dann soll Sabine es von mir erfahren.«
Und was ist dann, dachte er, als er mit übermächtiger Anstrengung das Krankenzimmer des kleinen Peter betrat. Wie wird Sabine damit fertig werden?
Schwester Meta bewachte den kleinen Patienten. Sie war auch nicht von ihrem Platz gewichen, als sich das Drama draußen abspielte.
»Er wird schon durchkommen«, bemerkte Schwester Meta. Sie dachte an Peter, aber Nicolas dachte jetzt an Michael. Wenn er nun nicht durchkam? Wenn Hasso von Sillberg Sabines Bruder auf dem Gewissen hatte?
Schwester Meta hatte andere Sorgen. »Um Thomas und Ulrike werde ich mich heute kaum kümmern müssen«, erklärte sie.
»Sie sind bei ihren Eltern«, erwiderte sie geistesabwesend.
»Das ist gut. Auf solchen Betrieb sind wir doch noch nicht eingerichtet.«
Ihre nüchterne Feststellung erinnerte ihn daran, dass er Pflichten hatte. Schwester Meta brauchte auch mal Ruhe.
Jetzt brauche er sich darüber noch keine Sorgen zu machen, meinte sie.
Sie konnte ja nicht wissen, welche schweren Sorgen ihn bewegten.
*
Sorgenvollen Gedanken gab sich auch Sandra Münster hin, nachdem Hasso von Sillberg abtransportiert worden war. Und im »Seeblick« erinnerte sich Carla Richter an ihr Gespräch mit Sabine über Hasso von Sillberg. Sie wusste jetzt, dass sie sich auch damals nicht getäuscht hatte.
»Der Kerl kann nicht zurechnungsfähig sein«, sagte Felix Münster zu seiner Frau.
»Blindwütiger Hass wäre auch ein Motiv«, äußerte sie leise. »Für Sabine muss es entsetzlich sein. Von wem wird sie es erfahren? Müssten wir nicht …«
Sie kam nicht weiter, denn das Telefon läutete. Felix nahm den Hörer ab.
»Ja, Dr. Allard?« Er sah Sandra an, während er lauschte. »Das ist entsetzlich. – Nein, wir wussten es noch nicht. Sillberg ist weggebracht worden. Jonny hat ihn ganz schön zugerichtet. – Wer hätte auch diesen Verdacht hegen können.«
Herzklopfend breitete die Dämmerung einen sanften Schleier über die Landschaft, die wieder voller Frieden war, als wäre nichts geschehen.
Sandra stand am Fenster und ließ ihren Blick zum See schweifen.
»Wir haben diese heile Welt als etwas Selbstverständliches betrachtet«, sagte sie leise. »Wir mussten wohl daran erinnert werden, dass Hass vor nichts haltmacht.«
»Nicht melancholisch werden, Sandra«, erwiderte Felix. »Auch im Paradies gab es schon eine Schlange. Das Stärkere siegt, und das Gute ist immer stärker als das Böse.«
Dann kam der zweite Anruf, und Felix Münster erfuhr, dass Hasso von Sillberg sich mit einer Giftkapsel, die er bei sich getragen hatte, das Leben genommen hatte.
Nun würde man nie erfahren, ob er Michael hatte treffen wollen oder einen anderen aus dieser kleinen Welt, die ihm verschlossen gewesen war, weil er nicht hineingepasst hatte.
*
Lisa hatte eine lange Zeit mit geschlossenen Augen gelegen. Sabine hoffte so sehr, dass die Erschöpfung ihr Schlaf bringen würde, der sie von quälenden Gedanken befreite. Doch plötzlich richtete sich Lisa auf.
»Ich will zu Michael!«, sagte sie entschlossen. »Ich liege hier, anstatt bei ihm zu sein.«
Sie war nicht aufzuhalten. Ein ungeheurer Wille war jetzt in dem zierlichen Persönchen, das eben erst die entsetzlichsten Stunden seines Lebens durchlebt hatte.
Sie duschte und kleidete sich um. Sabine wartete. Da schob sich Jill zur Tür herein. Ängstlich sah sie Sabine an. »Ich möchte nur Lisa sehen«, flüsterte sie. »Wo ist sie?«
»Du bist doch nicht etwa allein gekommen?«, fragte Sabine erschrocken. Dabei dachte sie, wie sehr Lisa von allen geliebt wurde, auch jene Lisa, die ihre Gedanken nie in Worten hatte ausdrücken können.
»Tante Lotte hat mich gebracht«, erzählte Jill. »Ich darf nur mal hineinschauen, hat sie gesagt. Erlaubst du nicht, dass ich ihr schnell einen Kuss gebe?«
»Du musst dich noch einen Augenblick gedulden, Jill. Lisa wird gleich fertig sein. Sie will zu Michael gehen.«
Jill nickte. »Sie wird ihn gesund machen«, erklärte sie eifrig. »Wenn sie seine Hände streichelt, kann er ruhig schlafen. Ich konnte auch immer ganz schön schlafen, wenn sie meine Hände gestreichelt hat. Da hatte ich gar keine Angst mehr.«
Sie verstummte, als sich die Tür auftat und Lisa erschien. Mit ausgebreiteten Armen ging sie auf Lisa zu.
Ein heller Schein flog über Lisas Gesicht, als sich das Kind an sie schmiegte.
»Meine kleine Jill«, sagte sie zärtlich, und jetzt war ihre Stimme nicht mehr heiser. Sie gehorchte ihr und war wie ein sanftes Streicheln.
Jill betrachtete sie andächtig.
»Jetzt kann ich hören, was du denkst«, flüsterte sie. »Sonst konnte ich es immer nur fühlen.«
Wie viel drückten diese Worte aus einem Kindermund aus. Sabine hielt den Atem an.
»Ich werde ganz brav bei Tante Lotte bleiben, weil Michael dich jetzt viel mehr braucht«, erklärte Jill. »Thomas und Ulrike sind gar nicht mehr hier. Sie sind jetzt wieder zu Hause. Sonst wäre es für Schwester Meta auch zu viel.«
Guter Gott, dachte Sabine, wir haben ja noch einen Patienten.
Lotte Thewald wartete in der Halle.
Ihre Augen waren umschattet, leuchteten dann aber auf, als Lisa auf sie zutrat und sie umarmte.
»Mutter«, flüsterte sie, »nun kann ich endlich Mutter zu dir sagen.«
Tränen würgten Lotte Thewald, denn sie musste daran denken, dass nun bald die Stunde