Die älteste Schwester Elisabeth kommt von der Arbeit. Ihr bleibt der Mund offen, als sie den schön gedeckten Tisch sieht, und sagt:
„Ja, was ist denn heute bei uns los?“
„Du weißt doch, heute gibt es das Abschiedsessen für August“, sagt Marie.
„Ach ja“, seufzt Elisabeth, „das habe ich bei der ganzen Arbeit beinahe vergessen.“
Alle hören schwere Schritte und ein Räuspern, mit dem Vater August seine Rührung verbirgt, als er in die Küche kommt. Dann stürmen noch Wilhelm und Franz mit ihrem großen Bruder August herein. Dieser hat noch einmal mit seinen kleinen Brüdern so richtig gerauft und sich dabei auch den Schleier auf seiner Seele vertrieben. Alle setzen sich um den Tisch. Heute beginnt der Vater mit dem Tischgebet: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name …“ Beim „dein Reich komme“ kämpft er mit den Tränen, denn Krieg ist immer das Gegenteil von Gottes Reich. Alle stimmen in das Gebet ein und Marie fährt mit dem „Ave Maria“ fort. Alle lächeln, denn sie wissen, was für Marie „die Himmelmama“ bedeutet.
Marie schiebt noch schnell ihre Marienmedaille, die sie zur Erstkommunion erhielt, zu ihrem Bruder hin und sagt:
„Alle Mütter wollen, dass ihre Kinder am Leben bleiben, auch die Muttergottes.“
Verlegen sieht August die Medaille an und kämpft mit den Tränen. Er nickt liebevoll zu Marie hin. Beide wissen auch ohne Worte, dass diese Medaille an seiner Brust Platz haben wird.
Das Essen schmeckt ausgezeichnet. Es wird gelacht und geschwatzt. Wilhelm und Franz sind ganz aufgeregt und fragen:
„August, wirst du wirklich auf ein Schiff kommen? Gegen wen musst du dann kämpfen? Werden dich die Feinde nicht abschießen?!“
„Fragt nicht so viel auf einmal“, sagt die Mama, „und schluckt zuerst euren Bissen hinunter.“
„Vermutlich muss ich gegen England kämpfen, aber seid ohne Sorge. Ich bin in einem Unterseeboot. Das sieht man nicht auf dem Meer.“
„Ja, aber wenn die Feinde auch unter Wasser sind, können die Boote zusammenstoßen“, sagt Wilhelm etwas altklug.
„Das stimmt. Deswegen muss man ganz gut aufpassen und genau die Seekarte lesen können, damit man weiß, wo man sich befindet. Aber wisst ihr, dass ich nur ein ganz einfacher Marinesoldat bin. Der Kommandant, der Kapitän und viele Offiziere kennen sich viel besser aus als ich.“
Die Buben geben sich zufrieden. Sie sind sehr stolz auf ihren großen Bruder.
Nach dem Essen sagt Marie:
„Kommt, wir beten noch einmal gemeinsam den Rosenkranz. Die Küche räumen wir später auf.“
Das gleichmäßige Gebet sinkt in ihre Seelen und beruhigt das Gemüt. Zum Schluss greifen alle in den Weihwasserkessel und segnen August. Dabei stoßen sich Wilhelm und Franz gegenseitig an und sie können das Lachen nicht mehr verbeißen, denn noch nie haben sie ihrem großen Bruder ein Kreuz auf die Stirn gemacht. Die ganze Familie stimmt in ihr Lachen ein und die Traurigkeit ist für kurze Zeit verflogen.
Am nächsten Morgen läutet es schon früh an der Haustüre. Einige Kollegen holen August ab. Es geht alles sehr schnell. So bleibt beim Abschiednehmen keine Zeit für Traurigkeit. Die Eltern und alle sechs Geschwister winken August nach. Bevor der Weg eine Biegung macht, dreht er sich noch einmal um und winkt zurück.
Die Menschen in Bamenohl können noch gar nicht begreifen, was da über sie hereingebrochen ist. Plötzlich sind keine jungen Männer mehr da. Die Schulen werden aus Mangel an Lehrern vorübergehend geschlossen. Sogar die Fabrik im nahen Finnentrop, in der viele Bamenohler Männer Arbeit fanden, wird vorläufig geschlossen. Lebensmittelknappheit und Preissteigerungen sind die Folge. Auch wenn vor dem Krieg viele Menschen einfach lebten, schlittern sie jetzt in die Armut.
„Wie gut, dass du noch Arbeit hast“, sagt Amalia eines Abends zu ihrem Mann.
„Ja, und wir haben eine Kuh, Hühner und ein Schwein“, sagt Marie. „Wir können dem lieben Gott danken.“
„Marie, du bist ein so gutes Mädchen“, sagt der Vater und streicht ihr über die Haare.
„Deswegen können wir ja von unsrem Gemüse und den Kartoffeln etwas hergeben“, wirft Marie noch einmal ein. „Kann ich Frau Luzia ein paar Kartoffeln, Eier und Äpfel bringen? Sie hat keinen Garten und ihr Mann ist im Krieg. Sie hat ein paar kleine Kinder.“
„Wo du nur alles herhast, Marie“, sagt lächelnd die Mama und beginnt einen Korb mit Lebensmitteln zusammenzupacken. Marie zieht sich die Schuhe an und nimmt den Korb.
Draußen ist es noch hell. Es ist ja erst Anfang September. Wie schnell sich doch in einem Monat das Leben in Bamenohl verändert hat, denkt sich Marie und läuft die Straße hinunter.
Die Eltern schauen ihr beim Küchenfenster nach, fassen sich bei den Händen und sagen gleichzeitig: „Unser liebes Mariechen hat ein so weites Herz.“
Diese kleinen Momente des Glücks können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg alles verändert hat. Wie ein dünner Trauerflor liegt die Sorge um August über der Familie. Niemand möchte die anderen mit der eigenen Sorge belasten.
Doch als Marie wieder einmal die Mama weinend beim Herd stehen sieht, sagt sie:
„Mama, machst du dir Sorgen um August?“
Die Mama nickt.
„Weißt du“, sagt Marie, „ich bin auch traurig, aber ich laufe oft in meine Kammer zum Marienbild und bete zu ihr.“
„Wir haben schon einige Wochen nichts von August gehört. Jetzt ist schon November. Weißt du noch, wie er gesagt hat, dass bis Weihnachten der Krieg zu Ende sein wird?“
Es klopft. Marie läuft zur Tür. Der Postbote bringt einen Brief. Marie erkennt gleich das Marinezeichen. Die Mama öffnet den Brief mit zittrigen Fingern. Im Brief schreibt August mit wackeliger Schrift, dass sich die Eltern und Geschwister keine Sorgen um ihn machen müssen. Er sei bei der Dritten Marineflotte eingesetzt, die vor allem das Auskundschaften des Feindes im Westen zum Auftrag hat. Auch hoffe er, dass er zu Weihnachten für ein paar Tage Heimaturlaub bekommen werde. Die Mama und Marie fallen sich um den Hals. Der sauerländische Bohneneintopf, den die Mama und Marie gemeinsam vorbereiten, schmeckt heute der ganzen Familie besonders gut. Für ein paar Tage löst sich der Trauerflor im Haus in Luft auf.
Ein paar Wochen später, am Heiligen Abend, liegt die Traurigkeit nicht nur über der Familie Autsch, sondern über ganz Bamenohl, denn es ist weder der Krieg vorbei, noch kamen die jungen Männer auf Urlaub heim. Die geduckte Haltung, mit der sich viele Menschen zur Mette aufmachen, rührt nicht nur vom kalten Wind. In vielen Fenstern brennt für Familienangehörige an der Front ein Kerzenlicht.
Eines Tages kommt der Vater mit einer guten Nachricht nach Hause: „Ich habe von einem Arbeitskollegen gehört, dass die Familie Brögger für ihre Kinder ein Kindermädchen sucht. Marie, möchtest du diese Arbeit annehmen?“
Marie schaut von ihrer Stickarbeit auf und sagt:
„Papa, das ist ja wunderbar. Da verdiene ich auch Geld und kann euch unterstützen. Irgendwann kaufe ich mir dann ein Fahrrad.“
Der Vater schüttelt über so viel Schwung seiner Tochter den Kopf und sagt:
„Ja, Marie, das machst du. Jetzt wird bald Frühling. Da kannst du auch die zwei Kilometer gut zu Fuß nach Finnentrop gehen.“
Marie blickt zu ihrer Mama. Es gibt ihr einen Stich, denn sie sieht zum ersten Mal ganz bewusst, wie mager und abgezehrt die Mama aussieht.
„Mama, wirst du den Haushalt ohne mich schaffen?“
Die Mama wischt sich mit der Kochschürze den Schweiß von der Stirn und sagt:
„Ach, Marie, du bist so aufmerksam. Manches Mal wird mir wirklich alles zu viel und jetzt im Frühjahr plagt mich wieder vermehrt das Rheuma.“
„Vielleicht