Erwin Kräutler

Mein Leben für Amazonien


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seelsorglichen Reisen in die Gemeinden, 1966/67, noch nicht direkt bei den armen Menschen. Es war vielmehr üblich, dass der Priester, wenn er in die Gemeinde kam, im Haus des Patrons gewohnt hat. Der Patron war so etwas wie ein Landvogt, dem Land und Leute „gehörten“. Die Menschen, die für ihn arbeiteten, waren so etwas wie Leibeigene. Nie sahen sie „die Farbe des Geldes“. Sie erhielten für ihre Arbeit keinen Lohn in Form von Geldscheinen, sondern nur das Notwendigste zum täglichen Leben, vom Salz angefangen bis zum Öl oder was immer sie benötigt haben.

      Es war eben Brauch, dass der Priester im größten Haus einkehrte, das es gab, also beim Patron. Er wurde dort herzlich empfangen und gut bewirtet. Der Patron ließ am Abend seine Leute kommen und hielt sie an, zur Beichte zu gehen. Tatsächlich stand dann eine lange Schlange zur Beichte an. Der Patron selbst war nicht unter den Beichtkindern, aber er hat mir aufgetragen, den Leuten bei der Beichte ins Gewissen zu reden, dass sie die Produkte nur an ihn liefern und nicht an andere verkaufen dürften. Denn sie würden ja ohnehin alles, was sie zum Leben brauchten, von ihm bekommen. Daher benötigten sie auch kein Geld. Ich habe natürlich die Anweisungen des Patrons nie ausgeführt, und wenn er nachfragte, habe ich auf das Beichtgeheimnis verwiesen.

      Bei diesen Besuchen haben wir Priester die Kinder getauft, die Brautpaare gesegnet und selbstverständlich mit den Leuten die Messe gefeiert. Dann sind wir an den nächsten Ort, zum nächsten Patron, weitergereist. Aber ab 1972, ab der Versammlung der Bischöfe Amazoniens in Santarém, waren die großen Häuser der Patrons plötzlich nicht mehr der Versammlungsort, sondern wir haben uns mit den armen Leuten am Flussufer unter irgendeinem schattenspendenden Baum oder in einer Baracke getroffen. Natürlich haben wir auch weiterhin Kinder getauft und Brautpaare gesegnet. Aber wir wiesen die Leute daraufhin, dass zu den Sakramenten das Gemeindeleben dazugehören muss. Ein getauftes Kind ist immer auch Mitglied einer christlichen Gemeinde.

      Die Zuwanderung verschärfte

      den seelsorglichen Notstand

      Der seelsorgliche Notstand wurde durch den Bau der Transamazônica verschärft. Denn diese Straße quer durch Amazonien löste eine große Zuwanderungswelle in den nördlichen Teil von Brasilien aus. Wir waren in Altamira damals nur zwei junge Priester und wussten erst gar nicht recht, was wir tun sollten. Eines aber war uns klar, es ging zunächst schlicht darum, für diese Migranten, die irgendwie entwurzelt waren, da zu sein. Sie sollten spüren, dass es auch hier „Kirche“ gab, zu der sie dazugehörten und die gerade für sie in ihrer vermeintlichen Heimatlosigkeit nicht aufgehört hat, Heimat zu sein. Wir besuchten und begleiteten die angekommenen Familien. Wir feierten Eucharistie und spendeten die Sakramente.

      Und doch: Wie sollten wir tausende Menschen aus den verschiedensten Bundesstaaten nun seelsorglich begleiten? Immer mehr Gemeinden schossen wie Pilze aus dem Boden, an der Hauptstraße und an den Nebenstraßen, die alle fünf Kilometer nach Norden und Süden bis weit in den damals noch üppig wuchernden Busch vordrangen. Wie sollten wir angesichts dieser enormen Binnenmigration aus dem Nordosten, aus dem Süden und aus Zentralbrasilien nach Amazonien wirklich dem Auftrag Jesu nachkommen, mit den Menschen an der Transamazônica Eucharistie zu feiern? Wie sollten wir das feiern, was das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Dogmatischen Konstitution Lumen Gentium als „Quelle“ und „Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11) bezeichnet hatte? Diese Aussagen des Konzils klangen für uns junge Priester alle so wunderbar, aber sie gingen – und gehen bis heute – mitleidslos an unserer Realität vorbei. Der größte Teil unserer Gemeinden und damit tausende Christinnen und Christen sind monatelang von dieser Quelle und dem Höhepunkt des christlichen Lebens ausgeschlossen.

      In den Nachbardiözesen war die Situation nicht anders. Daher mussten die Bischöfe Amazoniens 1972 bei ihrer historischen Versammlung in Santarém im Kielwasser des Konzils und der lateinamerikanischen Bischofsversammlung von Medellín für Amazonien ein neues seelsorgliches Konzept entwickeln. Die „desobriga“, die ausschließlich sakramentale Betreuung der Menschen entlang der Flüsse und Nebenflüsse, der Straßen und Nebenstraßen, griff pastoral entschieden zu kurz und war mit der im Konzil grundgelegten Kirche nicht mehr in Einklang zu bringen. Es ging jetzt um eine Kirche, die sich als das pilgernde Volk Gottes verstand, das miteinander unterwegs ist und in den Gemeinden lebt, wie Lumen Gentium gesagt hat: „In diesen Gemeinden, auch wenn sie oft klein und arm sind oder in der Diaspora leben, ist Christus gegenwärtig, durch dessen Kraft die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche geeint wird“ (LG 26).

      Ohne Gemeindeleben werden Sakramente zu fast magischen Ritualen. Das Schlussdokument von Santarém spricht deshalb im Sinne des Konzils und der Bischofskonferenz von Medellín von der Notwendigkeit einer Inkarnation der Kirche in die Realität Amazoniens. Zwei Eckpfeiler wurden festgehalten: die Inkarnation, das heißt, die Kirche hat in Amazonien „das Fleisch“, die Gestalt Amazoniens anzunehmen, und die „simplicidade“, die Einfachheit. Der Klerus sollte einfach sein wie das Volk, nicht erhaben. Der Zugang zum Volk solle so sein, dass wir nicht von oben herab missionieren, sondern dass wir mit dem Volk zusammenleben.

      Das erste Mal ist dabei in Amazonien das Wort Befreiung gefallen, der Gedanke, dass es um eine befreiende Evangelisierung gehe. Es sollte nicht um eine versorgende, sondern um eine befreiende Evangelisierung gehen. Die Erfahrungen und Anliegen der Leute an der Basis müssen berücksichtigt werden. Als Prioritäten des pastoralen Einsatzes wurden die Stärkung der kleinen kirchlichen Gemeinden – die später als Basisgemeinden bezeichnet wurden – und die damit verbundene Ausbildung der Laien gesehen. Frauen und Männer sollten befähigt werden, ihren Gemeinden vorzustehen, die Wortgottesdienste zu leiten, als Katechetinnen und Katecheten tätig zu sein und andere Dienste zum Wohl der Gemeinde zu übernehmen. Die Bibel, das Wort Gottes ist von zentraler Bedeutung in dieser Ausbildung. Dabei geht es darum, auf den Erfahrungen der Leute in den kleinen Gemeinden aufzubauen und diese durch das Wort Gottes immer mehr zu vertiefen. Die dritte Priorität waren die indigenen Völker, die vierte deren Bedrohung durch die Großprojekte der Regierung.

      In unserer Prälatur war dieser Ansatz der Gemeindebildung ab 1972 mehr oder weniger beschlossene Sache. Wir waren sofort handelseins, denn so viele Priester sind wir ja nicht gewesen. Wir haben von den Leuten verlangt, dass sie sich als Gemeinde etablieren. Viele blühende Gemeinden sind wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es war immer eine Freude, zu diesen Gemeinden zu kommen. Frauen und Männer haben die Leitung übernommen, haben Taufe und Hochzeiten und Kinder auf die Erstkommunion vorbereitet, und später, als ich schon Bischof war, die jungen Leute auf die Firmung.

      Es war eine neue Art und Weise, Kirche zu sein. Manches davon ist zeitweise ein wenig abgeebbt, sobald es nicht mehr ganz neu war, aber im Grunde existieren die kleinen Gemeinden bis heute. In jüngerer Zeit sind daneben die charismatischen Bewegungen entstanden. Vor allem in der Stadt machen sich diese bemerkbar. Dort funktioniert die kleine Basisgemeinde nicht ganz so wie in den ländlichen Gebieten. Auf dem Land ist die Basisgemeinde eine soziale Größe. Da gehört man dazu, auch die jungen Leute treffen sich dort. Dort wird alles besprochen, bis hinein in die Politik.

      Selbstverständlich läuft nicht alles friktionsfrei. Es hat zeitweise Polarisierungen gegeben. Vor allem vor Wahlen spielt in Brasilien die Parteipolitik eine große Rolle. Da bleibt kein Lebensbereich davon verschont. Es wird heftig diskutiert und gestritten. Man hat sogar gesagt, immer wenn Wahlen anstehen, zerschlägt der Wahlkampf die Gemeinden. Und der Priester muss den Scherbenhaufen nach der Wahl wieder kitten. Das ist auch tatsächlich oft und oft der Fall. Die Leute sagen, o. k., das war der Wahlkampf, das gehört dazu, aber jetzt möchten wir wieder gut zueinander sein.

      Die größte Prozession in der katholischen Welt

      Zu den erfreulichen Erfahrungen gehört eine jahrhundertelange Tradition der Volksfrömmigkeit, die unsere kirchliche Situation in Amazonien auch vom Süden Brasiliens unterscheidet. Im Süden kamen im 19. Jahrhundert europäische Einwanderer aus Polen, Deutschland, Italien und haben ihre Priester, die deutschen Lutheraner ihre Pastoren mitgebracht. Dort ist heute die kirchliche Situation ähnlich wie in Europa. Bei uns in Amazonien sind diese Einflüsse durch die Migration aus dem Süden Brasiliens in den vergangenen Jahrzehnten größer geworden, trotzdem ist die Art und Weise der Religiosität in Amazonien anders gelagert. Man merkt, dass durch