Livia Bitton-Jackson

Hallo Amerika!


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um neun steht er vor Tante Celias Tür, bereit für den versprochenen Tagesausflug.

      Der Broadway ist nicht so breit, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Und Tommy hat recht: Es gibt keine Wolkenkratzer, nur zwei-, drei- oder vierstöckige Gebäude.

      »Warum heißt er Broadway, wo er doch gar nicht so breit ist?«

      »Keine Ahnung. Es gibt sicher eine Geschichte zu dem Namen. Das ist fast immer so.«

      Aber als wir Mid-Town Manhattan erreichen, wird der Broadway richtig spannend. Buntes Verkehrstreiben. Prächtige Schaufenster. Riesige Farbplakate und Leuchtschriften werben für alles Mögliche, von Theaterstücken über Filme bis hin zu Camel-Zigaretten. An einer der Reklamen kann ich mich gar nicht sattsehen. Sie zeigt einen Mann mit Filzhut, dessen Mund offen ist – und der zwischen den Lippen Rauch ausstößt! Eine rauchende Werbetafel! Tommy biegt vom Broadway ab und fährt Richtung Empire State Building.

      »Ich parke hier irgendwo und wir gehen den Rest zu Fuß.«

      Als wir das Empire State Building erreichen, verschlägt es mir fast den Atem. Ich lege den Kopf nach hinten, um bis hinauf zur Spitze zu sehen, und es scheint zu schwanken. Während oben die Wolken ziehen, sieht es aus, als würde das Gebäude in die Gegenrichtung kippen. Vor lauter Schreck muss ich mich fast übergeben.

      Oh Papa, es ist Wirklichkeit geworden. Der »Himmelskratzer« ist tatsächlich so aufregend, wie du gesagt hast. Und die Geschäfte am Broadway sind genauso prächtig. Aber wo bist du, Papa? Du hast versprochen, dass du mit mir den Broadway entlang schlenderst und mir das schönste Kleid schenkst. Ich stehe hier am Fuß des Empire State Buildings, dem höchsten Gebäude in der Stadt deiner Träume, und das Massengrab in Bergen-Belsen überdeckt alles mit seinem gewaltigen Schatten. Und für einen Moment verwandelt sich die Aufregung zu Asche in meinem Mund.

      Aber ich werde nicht zulassen, dass das Massengrab über deine Träume entscheidet! Die Träume sind nicht in Bergen-Belsen begraben. Ich sorge dafür, dass sie hier in New York weiterleben. Ich werde all deine Träume weiterleben lassen. Jeder einzelne davon wird wahr werden.

      Können Märchen wahr werden?

      Heute um elf haben Mutter und ich einen Termin bei der HIAS, wo wir unsere Betreuerin kennenlernen werden. Tante Celia, die in einer Krawattenfabrik arbeitet und dort Baumwollfutter in Seidenschlipse näht, nimmt sich den Tag frei, um uns in der Brighton-Linie nach Manhattan zu begleiten, wo unser Treffen mit der Betreuerin stattfinden soll.

      Bei dieser Fahrt kann Tante Celia uns die Nutzung der New Yorker U-Bahn erklären – wie man für fünf Cent ein »Token« kauft, wie man dieses in den Schlitz am Drehkreuz steckt, dessen Arme nach vorne dreht und dabei durchgeht.

      Sie warnt Mami: »Pass bloß auf, dass du schnell genug bist. Wenn du trödelst, sind deine fünf Cent futsch. Dann musst du ein neues Token besorgen und alles nochmal machen.« Da Mami total besorgt aussieht, fügt sie aufmunternd hinzu: »Keine Angst, Laurika, du schaffst das schon. Schau mir zu. Ich gehe als Erste durch.«

      Geschafft! Sowohl Mutter als auch ich überwinden das U-Bahn-Drehkreuz ohne Probleme. Es ist Vormittag und die Brighton-Linie ist leer; wir drei sind zunächst die Einzigen im Wagen. Erst als wir uns Manhattan nähern, steigen weitere Passagiere ein. Sie nehmen schweigend Platz, starren ausdrucklos vor sich hin und verlassen die Bahn ebenso wortlos. Sie grüßen beim Einsteigen weder uns noch jemand anderen, wechseln während der Fahrt kein Wort miteinander und verabschieden sich auch nicht. Es gibt keinerlei Blickkontakt zwischen den Passagieren. Sie verhalten sich, als würden sie einer Geheimgesellschaft mit Schweigegelübde angehören oder sich gegenseitig als Feinde betrachten. Keine Ahnung, warum.

      »In Europa reden die Menschen im Zug miteinander. Warum begrüßt man hier nicht mal den, der neben einem sitzt?«, frage ich Tante Celia im Flüsterton.

      »Du musst nicht flüstern«, meint Tante Celia. »Keiner hier versteht Ungarisch. Anfangs fand ich das auch komisch: kein Hallo, kein Guten Tag, kein Guten Abend, und zwar nicht nur in der U-Bahn, sondern auch im Bus oder in den Geschäften. Wenn du Hallo oder Guten Tag sagst, sehen sie dich an, als seist du krank. Aber man lernt eben schnell. Jetzt, nach zwei Jahren, erinnere ich mich gar nicht mehr daran, dass ich die Leute an öffentlichen Orten gegrüßt habe.«

      »Aber das kommt mir so unfreundlich vor. Sind die Amerikaner ein unfreundliches Volk?«

      »Nein, aber das gehört eben zu ihrer Kultur. Du wirst dich schon daran gewöhnen.«

      Mutter sieht sich die Kleider der Frauen an. Was trägt man hier, was ist die neueste Mode?

      »Die Röcke sind hier viel länger«, stellt sie fest. »Und die Farben sind insgesamt eher dunkel. Ich sehe viel Braun, Grau und auch Schwarz. Verrückt, oder? Ich dachte, es wäre genau andersherum. Europa soll doch so konservativ sein, und nicht Amerika!«

      Eine halbe Stunde brauchen wir bis zu unserem Ziel. Von der U-Bahn-Station zur HIAS sind es dann noch einmal fünf Minuten zu Fuß. Obwohl wir etwas zu früh dran sind, führt uns die Rezeptionistin sofort in einen der Büroräume. Tante Celia muss im Gang warten.

      »Laura und Elvira Friedman sind da.«

      Eine untersetzte Frau mittleren Alters sitzt hinter einem massiven Mahagonischreibtisch.

      »Ich bin Mrs. Ryder, Ihre Betreuerin«, sagt sie mit tiefer, ausdrucksloser Stimme, während sie vor sich auf dem Tisch einen Aktenstapel durchsucht.

      Ganz offenbar haben Mutter und ich schon einen eigenen Ordner. Als Mrs. Ryder ihn schließlich gefunden und kurz überflogen hat, erklärt sie uns ihre Funktion als Betreuerin: Sie stellt unsere Verbindung zur HIAS dar, organisiert die hier angebotenen Hilfsleistungen und wird uns bei der Suche nach Wohnung, Arbeit und medizinischer Versorgung unterstützen.

      »Haben Sie Fragen?«

      »Ja. Darf ich für meine Mutter übersetzen und sehen, ob sie etwas wissen möchte?«

      Mrs. Ryder nickt, und nachdem sich Mami meine Zusammenfassung auf Ungarisch angehört hat, ruft sie: »Medizinische Versorgung? Das ist sehr gut. Wir brauchen einen Arzt, der sich um deine ständigen Magenschmerzen und deine Appetitlosigkeit kümmert.«

      »Wir haben hier eine Liste mit Ärzten, die schon für die HIAS gearbeitet haben«, meint Mrs. Ryder. »Schauen wir mal, ob es einen in Ihrer Nähe gibt. Hier habe ich einen. Dr. Alexander Hirschfield, ein Praktischer Arzt mit dem Schwerpunkt innere Medizin. Seine Praxis ist in der Thirteenth Avenue in Brooklyn, das ist nicht allzu weit von Ihnen entfernt. Soll ich für Sie einen Termin vereinbaren?« Sie nimmt den Hörer ab.

      »Ja, gern. Danke. Das wäre sehr freundlich.«

      »Dr. Hirschfield hätte am Nachmittag Zeit für Sie.« Mrs. Ryder legt ihre Hand auf die Sprechmuschel des Telefons. »Um 14 Uhr – soll ich Sie anmelden?«

      Ich nicke eifrig, und sie notiert den Termin auf einem Blatt Papier.

      Mutter und ich sind unendlich dankbar. Aber so gern ich diesem Gefühl auch Ausdruck verleihen möchte, ist mein Englisch ist doch viel zu beschränkt. Ich kann nur noch ein weiteres Mal »Danke« sagen.

      »Danke«, sagt auch Mutter, als wir zur Tür hinausgehen.

      Wieder daheim angekommen, können wir schnell etwas zu Mittag essen. Da sich Tante Celia freigenommen hat, begleitet sie mich zum Arzt. Der Weg ist recht kompliziert und man muss zwei Busse nehmen, um zur Thirteenth Avenue und Fifth Street im Bereich Borough Park zu gelangen.

      Leider verspäten wir uns um eine halbe Stunde. Und es ist mir furchtbar peinlich, für eine angemessene Entschuldigung nicht genug Englisch zu können, also nicht erklären zu können, dass ich erst vor zwei Tagen in Amerika angekommen bin und Tante Celia die Fahrtdauer wohl falsch eingeschätzt hat … ebenso wie die Warte- und Umsteigezeit. Dabei entgeht mir, dass sich Dr. Alex Hirschfield für diese Entschuldigung gar nicht interessiert.

      Was mir außerdem entgeht, sind – wie Tante Celia es später formuliert – »ein merkwürdig verträumter Blick des Doktors