meine Mutter.
Tommys Wagen erreicht die Abfahrt der Brücke und biegt dann in eine herrliche Avenue ein, eine breite, von Bäumen gesäumte Straße, die viele Meilen lang ist.
»Ist das der Broadway?«
»Der Broadway? Oh nein! Wir sind jetzt in Brooklyn. Vor zwanzig Minuten haben wir die Brooklyn Bridge überquert. Der Broadway ist drüben in Manhattan.«
»Und was ist das für eine Straße?«
»Die Ocean Avenue. Die Straße, in der Tante Celia und Onkel Martin wohnen«, ruft mein Bruder vom Rücksitz.
»Im Ernst? Ich hätte nicht gedacht, dass es in Brooklyn so breite Straßen gibt. Ich dachte …«
»Deshalb heißt es ja Avenue«, erklärt mein Bruder. »Eine breite Straße, so wie ein Boulevard.«
»Und der Broadway ist dann noch breiter? Ist er weit entfernt?«
»Willst du den Broadway sehen?«, fragt Tommy. »Wenn du willst, bringe ich dich morgen hin.«
»Wirklich? Ich kann es kaum erwarten, den Broadway zu sehen. Und die Himmelskratzer. Papa hat gesagt, am Broadway gibt es Himmelskratzer – Häuser mit mehr als hundert Stockwerken.«
»Nur eines ist so hoch«, sagt Tommy. »Das Empire State Building. Aber das ist nicht am Broadway.«
»Außerdem heißt es Wolkenkratzer«, schaltet sich Bubi erneut von hinten ein.
Ich erinnere mich gut daran, dass New York für Papa die Stadt seiner Träume war und er hoffte, eines Tages hierher kommen zu können. Aber ich darf nicht darüber sprechen. Nicht jetzt. Ich darf Tommy nicht erzählen, dass Papa mir das schönste Kleid kaufen wollte, das es auf dem Broadway gibt. Papa hat mir Bilder gezeigt und mit dem Finger auf eines dieser gewaltigen Gebäude gedeutet. »Das hier ist mehr als hundert Stockwerke hoch. Kannst du dir so etwas vorstellen? Irgendwann gehen wir beide, du und ich, den Broadway entlang und sehen hinauf zur Spitze des Gebäudes, die bis in den Himmel reicht. Deshalb nennt man sie wohl auch Himmelskratzer. Siehst du diese riesigen Schaufenster? »Wir gehen in eines dieser schicken, großen Geschäfte auf dem Broadway, und ich kaufe dir das schönste Kleid, das sie haben.« – »Oh Papa«, rief ich dann und schlang die Arme um ihn. »Oh Papa, ich hab’ dich so lieb.«
Das war unser Spiel in jener dunklen, schwierigen Zeit. Damals hatten wir bereits zwei Jahre darauf gewartet, dass auf der amerikanischen Immigrationsliste die Reihe an uns käme. Der Krieg tobte, und Hitlers Armeen rückten immer näher und sorgten bereits dadurch für Panik. Und von der Amerikanischen Botschaft war nicht zu erfahren, wann wir denn um Gottes Willen endlich unsere Einwanderungsvisa bekommen würden. Es schien hoffnungslos zu sein, aber trotzdem hielt uns Papa bei Laune, indem er Geschichten von der irrsinnigen Metropole erzählte, die wir ›irgendwann‹ erreichen würden.
»Da wären wir«, sagt Tommy, als er rechts heran fährt und den Wagen vor einem großen, prächtigen Gebäude parkt. »2010 Ocean Avenue.«
»Hier wohnt Tante Celia?«
»Ja«, meint Bubi. »Das ist das Haus.«
Ich sehe fasziniert an dem Gebäude hoch und gehe dann hinter Mami die drei oder vier Stufen zum Eingang hinauf und hinein in die geräumige Lobby. Die beiden Jungs folgen uns und tragen dabei das Gepäck bis ans Ende der Vorhalle. Ich traue meinen Augen nicht. Mit ihren blitzblanken Böden und dem großen Kamin wirkt die Lobby so vornehm wie ein Wiener Palais der Jahrhundertwende. Das entspricht schon mehr dem Amerika, das ich mir erträumt habe.
Am Ende der Lobby gehen wir die Treppe zum ersten Stock hinauf. Bubi klingelt ganz links in der Ecke an einer Tür, und ich merke, dass ich einen Frosch im Hals habe. Binnen Sekunden wird die Tür aufgerissen, und Tante Celia, genauso groß und schön wie in meiner Erinnerung, steht da und begrüßt uns.
»Laura! Elli!«
»Celia!«
Wir fallen uns glücklich in die Arme, wobei sich in die Freude auch Trauer mischt. Mir fällt ein anderes Wiedersehen ein, an einem anderen Ort und zu anderer Zeit. Wie lange ist das her? Wir sind festgefroren in einer schweigenden Umarmung, und plötzlich verwandelt sich das Treppenhaus um mich herum. Ich befinde mich an einem ausgetrockneten Ort im gleißenden, alles versengenden Sonnenlicht … und sehe in der Ferne eine dürre Gestalt umherwandern, die »Laura! Laura! Laura!« ruft. Es ist meine Tante, die jüngste von Mamis Schwestern, die auch jetzt noch, im grauen Sackgewand und mit geschorenem Kopf, unglaublich elegant wirkt. »Tante Celia!« Sie sieht mich ungläubig an und umarmt mich stürmisch. »Elli! Meine kleine Elli! Du bist hier? Wie ist das möglich? Und deine Mutter … wo ist deine Mutter?« Ihre Tränen verschmieren mir das Gesicht, als ich sie zu dem staubigen Loch führe, wo Mutter eingeschlafen ist. Tante Celia kriecht ebenfalls hinein, und die beiden Schwestern begrüßen sich in stillem Entsetzen, halten einander stiller umklammert und weinen still in diesem sengend heißen Dreckloch in Auschwitz, dem furchtbarsten aller Konzentrationslager … nur um dann auch wieder getrennt zu werden.
Wie lange ist das her? Und jetzt stehen wir drei, nach Jahren der Sehnsucht, erneut in einer innigen Umarmung. Diesmal aber in einer neuen Welt und an der Schwelle zu einem neuen Leben.
Das Glück unserer Wiedervereinigung ist vom Schmerz der Erinnerung getrübt. Unsere Tränen der Freude vermischen sich mit denen der Trauer über die unsäglichen Verluste, die wir seit jenem Treffen an unserem ersten Tag in Auschwitz erlitten haben. Der Geist des siebzehnjährigen Imre, dem einzigen, vielgeliebten Sohn von Tante Celia und Onkel Martin, ist in dieser Umarmung mit anwesend, während wir, immer noch weinend, von Tante Celia in ihr amerikanisches Zuhause geführt werden.
Onkel Martins strahlende Augen stehen bei der Begrüßung in krassem Gegensatz zu den deutlichen Spuren seiner Trauer – die tiefen Falten in dem jungenhaften Gesicht und die grauen Strähnen in seinem früher komplett roten Haarschopf.
»Wie geht es meiner allerliebsten Schachpartnerin?«, fragt er, als er meine Mutter umarmt. Und als ich dann an der Reihe bin, meinen geliebten Onkel zu umarmen, kann ich die Tränen genauso wenig zurückhalten wie heute Morgen beim Wiedersehen mit Onkel Abisch. Was ist nur mit mir los? Warum habe ich meine Gefühle nicht im Griff? Vor meinem neuen Cousin – wie peinlich. Und vor meinem Bruder. Er hat immer Heulsuse zu mir gesagt, auch wenn er jetzt zum Glück keinen Mucks macht.
Mein Weinen lässt Onkel Martins Augen rot werden, und er flüstert: »Es gibt so viel, über das wir reden müssen … Gott sei Dank seid ihr jetzt da.«
In der kargen, hell erleuchteten Küche ist ein Tisch für sechs gedeckt. Aber mein Bruder und mein Cousin lehnen die Essenseinladung dankend ab. Bubi muss wieder an seine Talmud- Hochschule, die Yeshiva University, und Tommy hat angeboten, ihn hinzubringen.
»Morgen um neun«, verspricht Tommy, »hole ich dich ab und wir fahren zum Broadway. Und zum Empire State Building.«
Nach dem Essen reden wir vier noch lange weiter. Es gibt so viel zu erzählen, so viel, woran wir uns erinnern müssen. Und so viel zu tun.
Es ist schon nach Mitternacht, als Celia und Martin das Castro-Sofa im Wohnzimmer aufklappen und in ein Doppelbett für Mutter und mich verwandeln. Als wir uns dann gute Nacht sagen und ich in die Federn krieche, kann ich erstmal nicht einschlafen. Was für ein langer Tag das gewesen ist! Die Flut an neuen Eindrücken umtost mein inneres Auge. Ich liege da und denke an alles, was ich seit dem Morgen erlebt habe.
Aber es gibt da noch etwas, das mich vom Schlafen abhält. Jede halbe Stunde ertönt ein ohrenbetäubendes Geräusch, das wie das Rattern eines vorbeifahrenden Zuges klingt. Wie soll man bei so einem Lärm schlafen?
»Das ist die Hochbahn«, erklärt mir Tante Celia am nächsten Morgen. »Die Brighton-Linie des U-Bahn-Netzes, nur vier Blocks von hier entfernt.«
»Du gewöhnst dich schnell daran«, sagt mein Onkel lachend. »Bald wirst du ohne sie gar nicht mehr schlafen können.«
Wir frühstücken zu viert. Es gibt Orangensaft, Roggenbrot mit Streichkäse und Instantkaffee mit Milch aus dem Pappkarton – mein erstes amerikanisches