Livia Bitton-Jackson

Hallo Amerika!


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die ewig gedauert hat! Er ist mondsüchtig, der arme Tropf!« Tante Celia blinzelt mir zu. Ungeachtet meiner Proteste zieht sie mich den ganzen Heimweg über damit auf, dass ich ohne jede Rücksicht »einen netten, harmlosen Arzt verhext« hätte. Als wir dann ankommen, stürmt sie geradewegs in die Wohnung und berichtet Mutter und Onkel Martin, bei mir sei vom Medizinischen her alles unter Kontrolle, wobei man »dasselbe nicht von diesem armen Arzt sagen kann, der hoffnungslos krank ist – liebeskrank«.

      »Unsinn!«, rufe ich betreten. »Dr. Hirschfield ist einfach ein Arzt, der sich um seine Patienten kümmert. Mein Magengeschwür macht sich bemerkbar, und es wird ein paar Tests geben. Was soll er denn machen? Ein blutendes Magengeschwür ignorieren? In München war ich damit zwei Monate im Krankenhaus!«

      Aber nichts von dem, was ich sage, scheint diese drei irgendwie zu beeindrucken. Sie hören einfach nicht auf, mich zu hänseln.

      Am Abend klingelt das Telefon, und fast schon ausgelassen verkündet Tante Celia: »Elli. Für dich. Es ist Dr. Hirschfield!«

      »Hab ich’s nicht gesagt? Ist er jetzt mondsüchtig oder nicht?«, meint Celia hämisch, als ich später auflege.

      »Was gibt’s denn da zu lachen?«, frage ich. »Er wollte wissen, wie es mir geht, und hat gesagt, ich soll morgen in die Praxis kommen. Die Tests müssen so schnell wie möglich durchgeführt werden.«

      Am Dienstag muss mich Tante Celia nicht zu Dr. Hirschfields Praxis begleiten. Es ist im Gegenteil so, dass ich einen kürzeren Weg ausfindig mache und diesmal bereits vor dem vereinbarten Termin da bin.

      Ein breites Grinsen überzieht das Gesicht des Arztes, als er mich unter den Patienten im Wartezimmer entdeckt.

      »Ah, Miss Friedman, Sie sind pünktlich!«, ruft er freudig, und auf seiner linken Wange erkenne ich ein Grübchen. »Bitte, kommen Sie ins Sprechzimmer.«

      Dr. Hirschfield freut sich wie ein Kind, mich zu sehen. Sein Glück scheint keine Grenzen zu kennen. Als würde ich über ein Radarsystem verfügen, nehme ich unmittelbar nach Betreten des Sprechzimmers seine Ausstrahlung wahr und lasse mich von seiner Begeisterung anstecken.

      Die medizinische Untersuchung verwandelt sich in eine emotionale Begegnung. Dr. Hirschfield möchte »alles« über mich wissen, über mein Leben, und speziell über meine Erlebnisse während des Holocausts.

      »In welchem Konzentrationslager waren sie?«, fragt er, und seine tiefblauen Augen leuchten ausdrucksvoll. Ich erkenne darin Mitgefühl und Schmerz. Außerdem noch etwas, das ich nicht recht benennen kann.

      »Zuerst in Auschwitz und dann …«

      »Auschwitz!«, unterbricht er laut. »Verzeihen Sie … aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der in Auschwitz war!« Er nimmt meine Hand, und die Tränen schießen ihm in die Augen. »Mein armes Kind. Ich möchte Ihnen etwas sagen, das ich noch niemandem erzählt habe. Ich bin in Deutschland geboren und … sowohl mein Vater als auch meine Mutter sind in Auschwitz ums Leben gekommen. Und Sie … Sie waren dort und sind der Hölle entkommen, die meine Eltern verschlungen hat – mein Engel. Ich werde der HIAS auf ewig danken, dass sie Sie zu mir gebracht hat.«

      Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bis ins Mark erschüttert mich dieser Ansturm der Gefühle – seiner ebenso wie meiner.

      »Ich verspreche, dass ich Sie wieder gesund machen werde. Wie ein Bruder kümmere ich mich um Sie. Ich möchte Sie für alles entschädigen, was Sie durchmachen mussten – wenn Sie mich lassen.« Sein Blick ist eine einzige Bitte. »Wenn Sie mich nur lassen.«

      »Dr. Hirschfield …«

      Ich habe einen Frosch im Hals und drohe zu ersticken. Ich kann nicht atmen. keinen einzigen Ton kann ich von mir geben.

      »Sagen Sie doch bitte Alex zu mir. Okay, Elli?«

      Ich hole tief Luft.

      »Ja«, krächze ich, und erneut droht ein Schwall Tränen meine Worte zu ertränken. »Ich sage gern ›Alex‹. Und ich bin sehr, sehr dankbar. Wissen Sie, ich fürchte mich ein bisschen … habe ein bisschen Angst. Angst vor Amerika. Es gibt so vieles, das ich nicht verstehe. Ich brauche einen Freund. Danke für das Angebot – ist Angebot das richtige Wort? Danke für das Angebot, mein Freund zu sein.«

      »Mein armes Kind. Ihr Freund zu sein, würde mich glücklich machen, Elli – wenn Sie mich lassen. Etwas Schöneres gibt es nicht! Mein Engel, ich muss jetzt weitermachen. Die anderen Patienten warten. Hier ist eine Liste mit den Tests, die Sie machen müssen. Ich vereinbare die Termine und richte mir die Arbeit hier so ein, dass ich Sie begleiten und überall mit dabei sein kann.«

      »Wann werden die Tests sein? Wissen Sie, Herr Doktor … ich meine, Alex. In den nächsten zehn oder elf Tagen feiern wir das jüdische Pessachfest …«

      »Selbstverständlich. Wir machen sie dann eben nach Pessach. Das muss sowieso erst alles organisiert werden. Auf Wiedersehen und bis bald – mein Engel!«

      Alex umarmt mich fest, aber doch zärtlich und wohlwollend – und liebevoll. Die Umarmung eines Freundes. Oder eines Vaters?

      Ich fühle mich wie Aschenputtel in den Armen des Prinzen. Ist Dr. Hirschfield vielleicht mein Prinz? Kann das sein? Passiert mir das hier tatsächlich?

      Sind Märchen in Amerika die Wirklichkeit?

      Vorbereitungen für Pessach

      »Einfach ein perfektes Timing«, sagt Onkel Martin. »Wir feiern eure Ankunft in Amerika, dem Land der Freiheit, zusammen mit Pessach, dem Fest der Freiheit. Was für ein schöner Zufall!«

      Ich bin durch diese Symbolik aufgeregt und gerührt zugleich. Obwohl das Judentum Omen ablehnt, sie als Aberglaube einstuft und deshalb verbietet, habe ich, wie ich zugeben muss, Zufälle immer als geheime Botschaften betrachtet. Deshalb scheint mir auch jetzt der Umstand, dass wir so kurz vor dem jüdischen Feiertag der Freiheit angekommen sind, ein gutes Omen für unsere Zukunft in Amerika zu sein.

      Es ist aber wie eine Ironie des Schicksals, dass die Tage vor Pessach für eine jüdische Hausfrau die reine Sklaverei sind. Noch vor dem Kochen und Backen der Feiertagsspeisen, und speziell derer für das Hauptereignis, den Seder-Abend, muss die Wohnung von allem befreit werden, was an gesäuertem Brot und sonstigen Essensresten vorhanden ist. Wegen der drastischen Säuberungsaktionen meiner Mutter waren die Tage vor Pessach seit jeher furchtbar für mich.

      Jetzt ist es Tante Celia, die eifrig mit dem Frühjahrsputz und Millionen anderer Festtagsvorbereitungen beschäftigt ist. Sie kommt um sechs aus der Fabrik heim und stürzt sich sofort in die Hausarbeit.

      »Warum können wir dir nicht zur Hand gehen?«, fragt Mutter zum x-ten Mal. »Elli und ich fühlen uns so nutzlos, wenn wir nur dastehen und dir bei der Arbeit zusehen. Warum gibst du uns nicht irgendetwas zu tun?«

      »Auf keinen Fall!« Celia fuchtelt abwehrend mit den Armen. »Auf keinen Fall! Ihr seid hier Gäste. Ich habt euch noch gar nicht von der Reise erholt. Ihr seid erst drei Tage hier. Ruht euch erstmal aus. Später könnt ihr dann noch genug arbeiten.«

      »Vier Tage«, korrigiert Mutter ihre jüngere Schwester. »Wir sind seit vier Tagen hier und haben uns genug ausgeruht. Höchste Zeit, dass wir auch etwas tun«, protestiert Mutter, während sie hilflos dabei zusieht, wie Tante Celia den kleinen Teppich im Flur zusammenrollt, zum Fenster trägt, ihn über dem Sims wieder ausrollt und dann, in jeder Hand einen Tennisschläger, energisch ausklopft. Dann greift sie zum Putzeimer und spritzt Seifenwasser auf den Linoleumboden, während meine Mutter und ich zurücktreten, um nicht im Weg zu sein und Tantchens Wisch-Aktion den nötigen Raum zu geben.

      »Aber das ist doch absurd!«, ruft Mutter. »Wie können wir ruhig dastehen, während du dich nach einem harten Tag in der Fabrik auch noch hier krumm schuftest? Du musst Elli und mich auch etwas machen lassen.«

      »Ihr kennt die Wohnung nicht und wisst weder, wo alles ist, noch, was zu tun ist und wie. Es ist einfacher, wenn ich es selbst mache«, erklärt Tante Celia, während der Wischmopp in ihren