Verena Themsen

Elfenzeit 2: Schattendrache


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Da sie nicht sicher war, ob er den Weg beobachtete, gab sie sich den Anschein einer normalen Spaziergängerin, bis sie den Waldrand erreichte. An der Gabelung der Wege betrachtete sie kurz die dort aufgestellte Infotafel zur Siegfriedsage, ehe sie in den Wald hineinspähte. Sie versuchte, einen dunklen Umriss auszumachen, der zu dem Mann im Mantel passte. Er schien aber den schnellen Schritt, mit dem er den Feldweg entlanggegangen war, weiter eingehalten zu haben, denn sie konnte von ihm weder etwas sehen noch hören.

      Sie schlug den kürzeren Weg ein, überzeugt, dass auch der Mann das getan hatte. Ihr unermüdliches morgendliches Joggen kam ihr jetzt zugute, denn der Weg war steil genug, um sie bei dem Tempo rasch aus der Puste zu bringen.

      Als sie das obere Ende des Waldweges erreichte, atmete sie schneller als normal und hatte rote Wangen. Es wurde langsam dunkel und der Nebel machte alles klamm. Nina spielte mit dem Gedanken, zum Auto zurückzukehren und ihre seltsame Abenteuerexpedition zu vergessen, doch dann runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. Nein, sie würde das hier durchziehen, wohin auch immer das führte.

      Sie folgte dem Schotterweg in der Richtung, die ein Schild angab, und als sie um eine Biegung kam, sah sie den unheimlichen Mann wieder vor sich. Schnell ging sie ein paar Schritte rückwärts und duckte sich hinter einen Holzstapel am Wegesrand, denn sie hatte gesehen, dass er stehengeblieben war. Sein Blick war auf eine abstrakt wirkende große Holzstatue gerichtet. Im nächsten Moment schüttelte er den Kopf und stieg daneben einige Stufen zu einem Weg hinauf, der tiefer in den Wald hinein führte.

      Als sie ihn nicht mehr sehen konnte, kam Nina hinter dem Holzstapel hervor und folgte dem Mann langsam. Im Schatten der Bäume würde sie ihn kaum mehr finden, und sie musste vorsichtig sein, nicht einfach in ihn hinein zu laufen. Sie beschloss daher, nicht weiter auf dem Pfad zu bleiben, sondern ihr Glück im nicht allzu dichten Wald links davon zu versuchen. Im Fastdunkel suchte sie einen Weg zwischen Bäumen und Büschen hindurch, bis sie vor sich das leise Glucksen eines Baches hörte. Sie änderte ihre Richtung, um neben dem Bach entlang zu laufen. So hoffte sie, zur Quelle zu gelangen, die Davids und Rians Ziel gewesen war.

      Inzwischen war es bereits so dunkel, dass sie den Boden kaum noch erkennen konnte. Vorsichtshalber hielt sie nun beim Gehen die Hände etwas vor sich ausgestreckt. Dass sie sich mit dem Lauf des Baches verschätzt hatte, bemerkte sie erst, als sie hörte, wie unter ihr Wasser über ein Hindernis plätscherte, und ihre Füße plötzlich feucht wurden. Mit leisem Fluchen sprang sie auf der anderen Seite aus dem Bachlauf heraus. In diesem Moment hörte sie ein leises Singen.

      Sie zögerte, und ihr Blick pendelte zwischen der vermuteten Lage der Quelle und dem Gesang, der von links kam. Schließlich entschied sie sich für die Quelle und tastete sich in dieser Richtung weiter durch den Wald.

      *

      Rian saß bequem an einen Baum gelehnt und beobachtete interessiert die Geschehnisse. Im Schein der hohen Gartenfackeln, die rings um eine vergleichsweise ebene und freie Fläche hinter dem Unterstand aufgestellt waren, standen vier Frauen und zwei Männer in einem Kreis, die Augen geschlossen, die Arme leicht ausgebreitet, und sangen leise.

      Die Frau von der Quelle ging mit einer Schale in diesem Kreis herum und besprühte jeden nacheinander drei Mal in verschiedener Höhe mit einer Flüssigkeit daraus. Hinter ihr schritt ein Mann mit einem Räuchergefäß ebenfalls die Runde ab und wehte jedem etwas Rauch gegen Gesicht und Körper.

      »Glaubst du, sie hat das Quellwasser in der Schale?«, flüsterte Rian zu David, der neben ihr bäuchlings auf dem Waldboden lag, das Gesicht in die aufgestellten Hände gestützt.

      »Hat sie«, antwortete er. »Ich spüre es genau.«

      »Sie scheint tatsächlich eine Art magische Verbindung zwischen den Leuten zu weben, siehst du das?«

      David nickte nur.

      »Und ich dachte immer, die Sterblichen hätten alle Fähigkeiten in diesen Dingen verloren.«

      Grog kratzte sich im Nacken. »Nicht alle«, brummte er leise. »Aber das da – ich glaube, das liegt zum Teil daran, dass David dieses Wasser berührt hat. Unsere Gegenwart verändert die Magie dieser Welt. Eure ganz besonders.«

      Rian sah nachdenklich zu ihm. »Du meinst, selbst wenn sie sonst nichts bewirken mit dem, was sie tun, kann es sein, dass unsere Nähe es wirksam macht?«

      Der Grogoch nickte.

      »Aber da sie nicht genau wissen, was sie tun …«

      »… kann das Ergebnis recht unkontrollierbar sein«, beendete David Rians Satz. Er drehte den Kopf zu ihr, seine Augen funkelten. »Das könnte ein interessantes Erlebnis werden. Diese Sterblichen fangen an, mich zu amüsieren.«

      »Also gut, bleiben wir noch eine Weile. Aber denkt daran – sollten wir merken, dass die Dinge außer Kontrolle geraten, müssen wir darauf achten, dass die Menschen nicht durch unsere Gegenwart zu Schaden kommen. Und Pirx: Halt dich aus allem raus, was sie tun!«

      Der Pixie verzog das Gesicht. »Ich hab doch gar nix gemacht!«

      »Aber du hast an was gedacht, ich hab’s gesehen«, brummte Grog und schlug ihm leicht auf die Nasenspitze.

      »Autsch!«, quietschte Pirx. »Das ist ungerecht! Was kann ich dafür, was ich denke?«

      »Nichts, so lange du es beim Denken belässt.«

      »Und wer sagt, dass ich was anderes gemacht hätte?«

      »Die Erfahrung«, antwortete Grog.

      »Scht!«, zischte Rian und gab Zeichen, leiser zu sein. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Leuten zu.

      *

      Zwischen den Bäumen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Nina atmete erleichtert auf, als sie vor sich endlich einen helleren Schimmer sah, der auf eine nahe Lichtung hindeutete. Die Hände vorsichtshalber weiterhin vor sich ausgestreckt stolperte sie darauf zu. Sie verschwendete inzwischen keinen Gedanken mehr an die Verfolgung des Fremden oder die Fragen, die sein Auftauchen aufgeworfen hatte, sondern wünschte sich nur noch weit weg von der Dunkelheit und Kälte des Waldes. Dennoch wagte sie nicht, die Taschenlampe an ihrem Handy anzuschalten.

      Ihre nassen Füße fühlten sich klamm und fast taub an, die kalte Nebelfeuchte legte sich immer wieder über ihr Gesicht und sammelte sich in kleinen Tröpfchen auf ihren Wimpern, und ihre von Borke und Zweigen zerschundenen Hände konnte sie selbst durch Reiben kaum mehr aufwärmen.

      Als sie um ein Gebüsch herum auf die Lichtung trat, wäre sie beinahe wieder in das Bett des Baches gestolpert. Sie ging in die Hocke und stützte ihre Hände auf dem Boden ab, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen. Dann sah sie sich um.

      Links konnte sie schwach Feuerschein sehen, von dort war der Gesang gekommen. Zweifelsohne feierten dort die Esoteriker ihr Samhain-Ritual.

      Nina wandte der Helligkeit den Rücken zu und versuchte, irgendetwas in der Umgebung der Quelle zu erkennen. Doch außer ein paar unbeweglichen Umrissen von Dingen, die wohl Steine, Informationstafeln oder Sitzbänke waren, konnte sie nichts sehen. Kein Hinweis darauf, wo die Geschwister sein könnten, oder auch der Mann im Kapuzenmantel.

      Nina wandte sich wieder in Richtung des Feuers um und erstarrte.

      Zwischen sie und das Licht hatte sich ein dunkler Schatten geschoben.

      *

      Pirx trottete schmollend unter den Bäumen hindurch, zurück in Richtung der Quelle. Vielleicht würde er da wenigstens etwas Interessantes finden, denn das, was die Menschen trieben, fand er langweilig. Er verstand nicht, was Rian und David daran faszinierte. Jeder einzelne Elf der Crain hatte mehr Magie im kleinen Finger. Warum sollte man da zuschauen wollen?

      Vielleicht konnte er sich ja von der anderen Seite her in den Unterstand schleichen und nachsehen, ob die Leute irgendwelche Sachen dort gelassen hatten. Er würde sie sich nur ansehen, ganz bestimmt. Vielleicht ein wenig damit herumspielen, aber dann alles wieder aufräumen, ehe die Menschen zurückkamen. Und natürlich würde er darauf achten, nichts kaputt zu machen.

      Pirx blieb stehen