Verena Themsen

Elfenzeit 2: Schattendrache


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die anderen Pflanzen, die ringsherum verblühten und verwelkten.

      Man musste nur einen Blick auf die breite weiße Strähne im dunklen Haupthaar des Königs werfen, um zu ahnen, dass der Verfall sich durch alle Teile des vom Thron der Crain aus beherrschten Reiches Earrach zog, wahrscheinlich war die gesamte Anderswelt davon betroffen. Niemand konnte Genaues sagen, denn alle Tore waren versperrt. Alle, außer dem Zugang zur Welt der Menschen, die schon immer sterblich gewesen waren.

      Die Elfen waren dem Tod preisgegeben, dem endgültigen Tod, in dem selbst ihre Schatten verwehen würden, anstatt sich im Reich Annuyn zu manifestieren, wo zumindest ihre Erinnerungen bewahrt wurden.

      Es bedeutete das endgültige Ende – wenn sich der Herrscher nicht der einzigen Macht zuwandte, die groß genug war, um Hilfe bringen zu können. Und heute würde Alebin ihn daran erinnern, wo diese Macht zu finden war.

      *

      Rian starrte durch das Fenster des Abteils auf den breiten grauen Fluss, über den sie gerade auf einer Brücke fuhren, und auf die schmutzig wirkenden Industriegebäude und Lagerhallen am Ufer. Kalter Nieselregen traf das Fensterglas und lief in schmalen Rinnsalen herab, die vom Fahrtwind des Zuges zur Seite getrieben wurden. Die zierliche blonde Elfe folgte mit dem Finger einer Wasserspur und seufzte leise. Tief in ihr erwachte die Sehnsucht nach den bunten Lichtern und dem Leben der Straßen von Paris, und eine noch stärkere nach ihrer eigentlichen Heimat, in der es niemals grau und trüb gewesen war, ehe die Zeit ihren Weg dorthin gefunden hatte.

      Doch nach Crain konnte sie erst zurückkehren, wenn sie und ihr Bruder den Quell der Unsterblichkeit gefunden hatten. Selbst die Kinder Fanmórs durften es nicht wagen, dem König unter die Augen zu treten, ehe sie ihren Auftrag erledigt hatten, insbesondere wenn daran sprichwörtlich alles hing. Das Überleben der Anderswelt.

      Rian fuhr mit einer Hand durch ihr kurzes strubbeliges Haar und schloss einen Moment die Lider über ihren violetten Augen. Die Zeiten, da sie sorgenfrei und unbeschwert mit den Vögeln geflogen war, schienen ein für allemal vorbei. Selbst wenn es ihr und David gelang, das Reich zu retten, würde es nie mehr dasselbe sein. Veränderung. Auch sie war davon betroffen – kontaminiert, wie ihr Vater sagen würde.

      Die Elfe öffnete wieder die Augen und musterte ihren Bruder, der ihr gegenüber saß und mit gelangweilter Miene in einem Bahnmagazin blätterte. Er war nur um Rians willen mit in die Menschenwelt gekommen, und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht seine Verachtung ausdrückte für die Sterblichen und ihre Art zu leben und miteinander umzugehen. Er hatte schlimmeres Heimweh als sie, das war Rian klar, und manchmal tat er ihr leid. Vor allem aber war sie froh, nicht allein zu sein. Sie hätte sich niemals vorstellen können, ihre Welt ohne ihren Zwillingsbruder zu verlassen. Sie waren noch nie voneinander getrennt gewesen.

      Und auch um ihre weiteren Begleiter war sie froh. Sie sah neben sich, wo der Grogoch über den freien Teil der Sitzbank hingestreckt lag und mit offenem Mund leise vor sich hin schnarchte. Der freundliche Feenkobold, dessen Körper von nichts als seinem eigenen Haar bedeckt wurde, hatte schon früher gelegentlich gemeinsam mit Fanmór die Menschenwelt besucht. Deshalb hatte der Herrscher ihn seinen Kindern als Helfer und Beschützer mitgegeben. Leider hatte sich herausgestellt, dass zu viel Zeit in der Welt der Menschen verstrichen war, als dass seine Erfahrungen noch viel Wert gehabt hätten.

      Selbst Pirx, der erst vor kurzem seine neugierige Igelnase durch das Tor gesteckt hatte und daher zum Vierten in ihrem Bunde erkoren worden war, war von den vielen Veränderungen überrascht worden. Es war, als würde das Bewusstsein des Todes die Sterblichen zu immerwährender Hast antreiben.

      Rian schaute nach oben, wo Pirx gerade in die Gepäckablage kletterte und mit leisem Quietschen darin herumturnte. Ihn schien die lange Zeit, die sie bereits von ihrer Heimat getrennt waren, noch am wenigsten zu berühren. Doch Rian war sicher, dass selbst diesem quirligen Pixie mit dem Aussehen eines aufrecht gehenden Igels gelegentlich die Ruhe und Schönheit der Heimat fehlte.

      Rian hoffte inständig, dass sie in Worms den Brunnen fanden, dessen Wasser den Elfen die Unsterblichkeit zurückgeben sollte. Damit konnten sie heim nach Crain und alle heilen. Vater würde einen Weg finden, den Brunnen so zu versetzen, dass er auch von der Anderswelt aus erreichbar war und jeder daraus trinken konnte.

      Der Zug fuhr zwischen engen Häuserzeilen hindurch, deren Fenster den grauen Himmel widerspiegelten. Rian beobachtete eine Weile das Vorbeiziehen der Gebäude. Nach der langen Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug, der sie und ihren Bruder samt ihren beiden Begleitern von Paris nach Deutschland gebracht hatte, kam ihr das Tempo dieser Bahn schneckenhaft langsam vor.

      Sie riss sich schließlich vom Anblick der tristen Umgebung los, um das Buch aus der Tasche zu ziehen, das sie am Umsteigebahnhof mitgenommen hatte. Es war ein neuer Nora Roberts Roman, und der Einband mit den Auszügen aus verschiedenen Buchbesprechungen versprach Liebe und Romantik pur. Außerdem war er einfach zu lesen, denn Rian war keineswegs geübt darin und wollte ihre Kenntnisse erweitern. Auch hinsichtlich des Themas. Die Liebe der Menschen faszinierte Rian, denn es gab dieses Gefühl nicht unter den Elfen. Sie zweifelte jedoch daran, dass das ein echter Verlust war, denn wenn man den Filmen aus dem Fernsehen glauben konnte, ließ die Liebe die Sterblichen seltsame und häufig ausgesprochen dumme Dinge tun. Auch wenn Rian die damit verbundenen romantischen Situationen durchaus zu schätzen wusste – den Schmerz, den sich die Menschen hinterher regelmäßig zufügten, vermisste sie gewiss nicht. Darüber zu lesen tat allerdings nicht weh, und so hoffte Rian mangels Fernseher, durch dieses Buch hinter das Geheimnis zu kommen, warum die Menschen sich immer wieder auf »Liebe« einließen.

      Rian legte das Buch auf den Tisch, schlug es auf und verlor sich bald in der Geschichte. Sie nahm es kaum wahr, als Pirx begann, über ihren Köpfen von der einen Gepäckablage zur anderen zu springen. Selbst seine Freudenquietscher oder gemurmelten Flüche konnten sie nicht mehr aus ihrer Lektüre reißen.

      Nach einer Weile wurde die Abteiltür aufgeschoben, und eine gelangweilte Frauenstimme erklang. »Die Fahrkarten bitte.«

      Rian sah auf. Der Blick der Schaffnerin schweifte durch das Abteil, über den für sie unsichtbaren Grogoch hinweg, und sie stutzte nicht einmal, als Pirx vor ihrer Nase mit einem Salto von der rechten zur linken Gepäckablage sprang. Rian wusste, selbst wenn die Frau eine Bewegung mitbekommen hätte, hätte ihr Gehirn nicht zugelassen, dass sie etwas wahrnahm, das nicht in ihre Welt gehörte. Die Elfengeschwister jedoch sah sie, wenn auch nicht in ihrer wahren Form, sondern so weit angeglichen an das Aussehen der Menschen, wie es notwendig war.

      Rians Blick wanderte zu David, der die Fahrkarten hatte. Anstatt in seine Tasche griff dieser jedoch nach dem Faltblatt mit den Haltestationen des Zuges, das neben ihm lag, strich kurz darüber und reichte es dann mit einem freundlichen Lächeln der Schaffnerin.

      »Gruppenkarte«, sagte er, und sie erwiderte sein Lächeln mit einem aufkeimenden Leuchten in den Augen, nahm das Blatt und stanzte es, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen.

      »Angenehme Fahrt wünsche ich«, sagte sie und schob die Abteiltür wieder zu.

      Rian war sicher, dass der Frau das verträumte Lächeln auf ihren Lippen den ganzen Tag erhalten bleiben würde. Das war die Art, wie ihr Bruder auf die meisten Menschenfrauen wirkte. Er selbst hingegen verzog nur kurz verächtlich die Mundwinkel und blätterte dann in seinem Magazin weiter. Rian bezweifelte, dass er las.

      »Warum hast du das getan?«, fragte sie. »Nadja hat uns doch echte Fahrkarten gegeben.«

      Er zuckte mit den Achseln, ohne aufzusehen. »Weil ich es kann.«

      Pirx schaute kopfüber aus der Gepäckablage herunter, und seine rote Mütze fiel genau auf Grogs offenen Mund. Das Schnarchgeräusch ging in ein Röcheln über, und im nächsten Augenblick fuhr der haarige Grogoch unter heftigem Husten hoch. Die Mütze fiel von seinem Gesicht in seinen Schoß, und Grog beäugte den Stoff mit finsterem Blick, während er langsam wieder zu Atem kam. Schließlich sah er zu dem kichernden Pixie hoch.

      »Mir scheint, Pirx ist es langweilig«, stellte er mit für seine Körpergröße erstaunlich tiefer Stimme fest.

      »Jaaaaa!« schrillte er. »Ja, mir ist langweilig, langweilig,