R.L. Stine

Fear Street 58 - Die Mutprobe


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      Nora gab nicht klein bei. „Ich hab dir bloß gesagt, was ich gesehen habe, Sandra. Kann ich jetzt bitte meinen Stift wiederhaben?“

      Sandra schloss die Hand fester um den Kugelschreiber. Ihr war klar, wie kindisch sie sich benahm. „Erst wenn du zugibst, dass du die Geschichte erfunden hast.“

      „Aber ich habe sie nicht erfunden“, versicherte Nora. „Also gib mir den Stift zurück.“

      Sie versuchte, Sandra den Kugelschreiber aus der Hand zu reißen, doch ihre Freundin war schneller.

      Erbost funkelte Nora sie an. „Wenn du mir die Geschichte nicht glaubst, kannst du meinetwegen sofort verschwinden.“

      „Wie du willst“, gab Sandra zurück. „Dann gehe ich.“

      Und das tat sie auch. Sie hatte ihre Schulbücher eingepackt, ihre Jacke geschnappt und war mit Noras Stift aus dem Haus gestürmt. Dann stopfte sie ihn in ihren Rucksack und fing an zu laufen.

      Es war nicht sehr weit. Ihr Haus lag zu Fuß nur zehn Minuten entfernt. Aber warum musste es so dunkel sein?

      Eine leichte Brise kam auf. Und Blätter raschelten. Plötzlich wurde die Luft eisig. Eine dichte Wolkendecke hing tief am Himmel und verdeckte den hellen Mond.

      Sandra näherte sich dem Friedhof der Fear Street, dessen alte Grabsteine wie schiefe Zähne aus dem Boden ragten. Sie drehte sich hastig um und starrte in die Finsternis hinter ihr.

      Irgendwas bewegte sich. Ein dunkler Schatten duckte sich hinter einen Baumstamm.

      „Bilde ich mir das bloß ein?

      Vielleicht. Vielleicht auch nicht!“

      Sandra rannte die Straße entlang und umklammerte ihren Rucksack wie einen Fußball. „Wenn ich beim Schulsport so schnell rennen könnte wie jetzt“, dachte sie und machte noch größere Schritte, „dann würde ich wahrscheinlich den Leichtathletikwettbewerb gewinnen.“

      Sie hatte den Friedhof schon fast hinter sich gelassen, als sie stehen blieb, um Luft zu holen. Einer ihrer Schnürsenkel hatte sich gelöst. Sie bückte sich, um ihn zuzubinden.

      Als sie sich wieder aufrichtete, erstarrte sie.

      Was war das?

      Sie hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Eine Stimme. Ein kaum hörbares Flüstern.

      „Sandra.“

      „Renn weg“, ermahnte sie sich. „Lauf, so schnell du kannst.“

      Doch ihre Beine rührten sich nicht. Sie blieb wie angewurzelt stehen.

      „Sandra“, flüsterte die Stimme wieder. Sie klang verspielt und spöttisch zugleich.

      „Nora“, zischte Sandra, „wenn du mir Angst einjagen willst, verzeih ich dir das nie!“

      Sie wandte den Kopf in die Richtung des Flüsterns. Es schien vom Friedhof zu kommen.

      Plötzlich sah sie eine Wolke am Abendhimmel. Eine Rauchwolke. Entsetzt sah sie, dass der Rauch hinter einem schiefen Grabstein aufstieg.

      „Nein. Das gibt es nicht“, dachte sie. „Das kann nicht sein, dass ich hier stehe und das sehe. Bitte, bitte, lass es kein Gespenst sein.“

      „Sandra.“

      Das Flüstern. Jetzt war es direkt hinter ihr. Direkt in ihrem Ohr.

      Sie keuchte, als etwas Kaltes ihren Hals berührte. Etwas Kaltes und Spitzes, das eine rasche, saubere Bewegung ausführte.

      Sie spürte die warme Flüssigkeit, noch bevor sie den Schmerz wahrnahm.

      Dann griff sie sich mit beiden Händen an den Hals. Als sie die Hände wieder sinken ließ, klebte dunkles Blut daran.

      „Meine Kehle“, dachte sie. „Jemand hat mir die Kehle durchgeschnitten.“

      Ihre Beine wurden schwach.

      Sie sank auf die Knie. Der dunkle Boden kam ihr immer näher.

      „Oh.“ Ein leises Stöhnen drang aus ihrer Kehle.

      Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt.

      Als ihr Rucksack auf den Gehweg prallte, platzte er auf, und der Inhalt kullerte heraus.

      „Mein Hals ... Ich blute. Helft mir!“

      Blind tastete Sandra auf dem Boden herum und suchte etwas, das sie retten könnte.

      Aber sie fand nur einen Bleistift.

      2

      Tanja Blanton las das Ende der Geschichte und sah sich erwartungsvoll im Raum um. Sie merkte, dass ihren Freunden des Horrorclubs die Erzählung gefallen hatte.

      „Ich glaube, die Geschichte ist ein richtiger Hit“, dachte Tanja und zwinkerte Sam zu. Er lächelte kurz zurück.

      „Wow.“ Rudy sagte als Erster etwas. Seine braunen Augen funkelten begeistert hinter seinem schwarzen Brillengestell. „Das war echt Klasse, Tanja.“

      „Mir liefen Schauer über den Rücken – ehrlich“, stimmte Maura zu. „Ich meine, ich konnte das Blut sogar spüren, das ihr den Hals herunterrann.“

      Rudy kicherte heiser und legte seine Hände um Mauras Kehle.

      „Rudy, lass mich in Ruhe!“ Maura wand sich aus seinem Würgegriff. „Müsstest du nicht längst im Bett sein?“, murmelte sie.

      „Heute Nacht kann ich sowieso nicht schlafen. Nicht nach so einer Geschichte!“, verkündete Rudy. Er wandte sich an Nora, die sich in einer anderen Ecke auf dem Fußboden räkelte. „Hey, Nora, kannst du mir einen Bleistift leihen?“

      Alle lachten.

      Nora grinste Rudy an. „Seit wann weißt du, wie man einen Bleistift benutzt?“

      „Oh! Jetzt hat sie es dir aber echt gegeben, Mann!“, sagte Sam zu Rudy. Er sprang blitzschnell von der Couch auf und schlug Rudy ein paarmal kraftvoll auf den Rücken.

      „Hört schon auf“, meinte Nora. „Und lasst uns über Tanjas Geschichte reden.“

      „Okay. Und was ist die Moral von der Geschichte?“, fragte Rudy grinsend.

      „Leihe dir von Nora niemals einen Bleistift aus!“, erwiderte Sam.

      Alle lachten.

      Nora schüttelte den Kopf. „Ganz falsch. Die wahre Moral der Geschichte ist, dass ihr mir immer glauben sollt“, sagte sie und zwirbelte eine ihrer dunkelbraunen Locken zwischen den Fingern. „Wenn ich sage, ich habe ein Gespenst gesehen, dann habe ich auch ein Gespenst gesehen.“

      „Schuhu!“, machte Maura und verdrehte die Augen.

      Tanja hörte nur zu, während alle anderen fünf Clubmitglieder anfingen, durcheinander zu reden. „Den Horrorclub zu gründen, war eine Superidee“, dachte sie. Die sechs Freunde trafen sich regelmäßig, tauschten Gruselgeschichten aus und jagten einander Angst ein. Es war jedes Mal wie eine Mutprobe.

      Tanja war stolz darauf, die Autorin der Gruppe zu sein. Ihr gefiel der Augenblick am besten, wenn sie eine ihrer Geschichten zu Ende vorgelesen hatte. Dann bewunderten alle sie und fragten sich, wie sie bloß jede Woche eine neue Gruselgeschichte erfinden konnte.

      Alle außer Sam natürlich. Denn er kannte ihr schmutziges Geheimnis. Er wusste, dass sie in den vergangenen Wochen nicht mehr zum Schreiben gekommen war.

      Und so hatte Sam die letzten Geschichten für sie geschrieben.

      Tanja verdrängte den Gedanken und merkte plötzlich, dass ein Mitglied des Clubs merkwürdig still war.

      „Sandra?“, fragte sie. „Stimmt irgendwas nicht? Bist du in Ordnung?“

      Sandra saß allein auf einem Sessel und ließ ihre langen Beine über die Armlehnen baumeln.