Uwe Neumahr

Die exzentrische Lebensgeschichte des Künstlers und Verbrechers Benvenuto Cellini


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Für einen Faustschlag, den er Gherardo Guasconti zuvor bei einer Rauferei am Mercato Nuovo gegeben hatte, wurde er zu einer Buße von 12 Scheffeln Mehl verurteilt – zu Unrecht, wie Cellini überzeugt war, denn es war seiner Meinung nach lediglich eine Ohrfeige gewesen.

      Gewalt und Sodomie

      Cellini verschweigt in seiner Vita nicht nur die Schwere der Verletzungen, die er seinen Widersachern zufügte. Ein Bekannter Gherardo Guascontis wurde von ihm ebenfalls verwundet, wie die Gerichtsprotokolle beweisen. Auch einen anderen Urteilsspruch, der einige Monate früher, am 15. Januar, gegen ihn verkündet wurde, unterschlägt er. Dabei handelte es sich um eine pikante Angelegenheit. Cellini war gemeinsam mit einem Freund für eine „unzüchtige Handlung“ als Buße zu 12 Scheffeln Mehl für ein Kloster verurteilt worden. Er hatte sich an Domenico di Ser Giuliano da Ripa der Sodomie schuldig gemacht, der aktiven Unzucht.32

      Mit den beiden Urteilen im Jahr 1523 treten zwei Eigenschaften Cellinis hervor, die ihm ein Leben lang Probleme bereiteten: seine Gewalttätigkeit und seine sexuelle Präferenz für junge Männer. Homosexualität war in Florentiner Künstler- und Intellektuellenkreisen seit jeher verbreitet. Als der Dichter Dante auf seinem Weg durch die Hölle im 15. Gesang der Göttlichen Komödie seinem Mentor Brunetto Latini begegnet, fragt er, wer Latinis Begleiter unter den Sodomiten seien und erhält eine offene Antwort: „Allgemein sollst Du nur wissen: Es waren alles Kleriker und große, weithin berühmte Literaten, die sich alle mit ein und demselben Laster befleckt haben.“ Was für Kleriker und Literaten galt, ließ sich ebenso über bildende Künstler sagen. Leonardo da Vinci war 1476 in Florenz wegen Sodomie vor Gericht gestellt worden. Botticelli wurde 1490 und 1502 des gleichen Vergehens wegen angeklagt.

      Der Begriff „Sodomie“, unter den auch Cellinis justiziables Fehlverhalten fiel, war damals ein Sammelbegriff, der Homosexualität, Päderastie, Masturbation und Sodomie umfasste, letztlich alle sexuellen Akte „gegen die Natur“, die nicht der Fortpflanzung und damit dem göttlichen Zweck der Sexualität dienten. Selbst ein sexueller Akt, bei dem die Frau auf dem Mann saß und der für die damaligen Gesetzeshüter eine Umkehrung der aktiven Rolle bedeutete, fiel unter die abweichenden Praktiken. Zwischen 1432 und 1502 gab es in Florenz dreizehntausend Untersuchungen gegen Männer, die sich sodomitischer Vergehen verdächtig machten, zweitausend wurden verurteilt.33 Fast jeder zehnte Florentiner geriet unter den Verdacht der Ausübung abweichender Sexpraktiken. Der Ruf der Stadt war derart, dass man in Deutschland Homosexuelle als „Florenzer“ bezeichnete. Die Sei Ufficiali di Notte, die sechs städtischen nächtlichen Ordnungshüter, gingen ausschließlich dem Vergehen der Sodomie nach. Sie mussten die anonymen Anzeigen und Selbstanzeigen der an Kirchen angebrachten Denunziationsbriefkästen auswerten. Die Sodomiegesetze von 1514 unterschieden in Erst- und Mehrfachtäter, dazu gab es drei Kategorien von Altersgruppen, die Vierzehn- bis Achtzehnjährigen, die Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen und die über Fünfundzwanzigjährigen. Die Todesstrafe wurde nur für die über Fünfundzwanzigjährigen vorgesehen, jedoch so gut wie nie angewendet. Michael Rocke hat in seiner Studie zur Homosexualität in der Florentiner Renaissance allerdings festgestellt, dass „Sodomie“ als Teil einer normalen männlichen Entwicklung betrachtet wurde, solange sie zeitlich begrenzt und Teil eines Lebensabschnitts war.34 Dem ist hinzuzufügen, dass die Bestimmung individueller Identität mittels der Sexualität ein modernes Phänomen ist, ebenso die Vorstellung von Homosexualität als „Seinsweise“. Cellini war nonkonform, oder, wie man heute sagen würde, queer. Es war für ihn wie für viele seiner männlichen Zeitgenossen normal, mit Frauen und jungen Männern Sex zu haben. Vor dem Hintergrund humanistischer Denkweise tat er ohnehin nichts anderes, als entsprechende Sitten der Antike wiederzubeleben. Cellini unterschied nicht anhand des Geschlechts, sondern mittels der Kategorien „aktiv“ und „passiv“ während des Geschlechtsakts. Ihm war wichtig, wie seine Äußerungen in einem späteren Prozess belegen, dass ihm der aktive, „männliche“ Part vorbehalten blieb. Er wollte penetrieren, dominieren und kontrollieren.

      Die Milde, die Cellini in seinem ersten Verfahren wegen Sodomie zuteilwurde, steht im Kontext der allgemein angewandten Mildtätigkeit. Zwar stand Sodomie unter Strafe und man wollte sie unter Kontrolle halten. Die Richter zeigten sich aber verhältnismäßig tolerant und erachteten das Vergehen als Jugendsünde. Cellini war Ersttäter und unter fünfundzwanzig Jahre alt. Jahrzehnte später sollte es sich in einem weiteren Sodomieprozess anders verhalten, doch dazu an geeigneter Stelle mehr. Ganz und gar nicht milde hingegen fiel das Urteil wegen seines gewalttätigen Handelns im Fall Guasconti aus. Cellini wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt.

      Cellini war gewalttätig, sein Leben lang. Drei Morde sind aktenkundig, wovon einer als Totschlag im Affekt bezeichnet werden muss. Nicht alle der dreiundzwanzig in seiner Vita auf Leben und Tod geführten Kämpfe sind nachweisbar. Dass es viele waren, steht außer Frage. Zudem tötete Cellini als Soldat in Diensten von Papst Clemens VII. zahlreiche Gegner. Er schreibt, sicher großspurig, dass während des Sacco di Roma „kein Tag verging, ohne dass ich einen Feind getötet hätte“.

      Wie gewalttätig Cellini war, darüber gibt es in der Forschung unterschiedliche Meinungen. Cellinis englischer Biograf John Pope-Hennessy sah seine Gewaltbereitschaft für die Verhältnisse der Zeit eher unterdurchschnittlich ausgeprägt, zumindest im Hinblick auf mortale Gewaltakte. „Die Mord-Quote war sehr hoch, Cellinis Rate war klein – drei Tote in siebzig Jahren; und Mord war ein akzeptiertes Mittel der Politik […]“.35 Eher psychologisch urteilt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp: „Cellinis größter Feind war seine eigene Gewalt.“36 Die Erschaffung von Kunstwerken sei geradezu existenziell für Cellini gewesen. Denn nur mit seinen Werken konnte er sich bei den frühabsolutistischen Machthabern für seine Untaten freikaufen, die dafür auf Strafverfolgung verzichteten. Gewalt begriff er „nicht als Gegenpol, sondern als Stimulus der künstlerischen Gestaltung“,37 womit Bredekamp in Cellini eine Art Vorläufer spätromantischer Genieästhetik sieht: Das besessene und energische Genie, das die unterschiedlichsten Lebensbereiche der Kreativität nutzbar macht, das sich über das Gesetz, die Regeln der Gesellschaft und Widerstände hinwegsetzt, um ausschließlich dem Werk zu dienen. Dass Cellini Gewalt aber nicht immer als Anreiz für sein Schaffen benötigte, zeigen die zahlreichen Gedichte, die im Gefängnis in Isolierhaft entstanden, wo sich ihm keine Angriffsfläche bot. In Cellinis Leben gibt es viele Jahre, aus denen keine Gewalttaten aktenkundig sind, er aber trotzdem produktiv war. Der letzte bekannte Gewaltprozess datiert aus dem Jahr 1556, als Cellini den Goldschmied Giovanni di Lorenzo Papi verletzte. Danach verlagerte er seine Konflikte auf Zivilprozesse. Cellini ging sehr oft vor Gericht, um Geschäftspartner und säumige Zahler zu verklagen. Fragt man nach einem Anreiz für sein Schaffen, so scheint dies eher der Kampf gewesen zu sein, der mitunter auch in körperliche Gewalt münden konnte. Seien es Kerkerhaft, Intrigen, Betrugsversuche, Angriffe auf seine Ehre, sein Einsatz im Rangstreit der Künste oder die Diffamierung seiner Homosexualität. Stets fühlte sich Cellini herausgefordert, einen Kampf aufzunehmen. Oft wurde die Auseinandersetzung für ihn zu einer kunstfördernden Stimulanz, die sich in bildkünstlerischen Werken, Schriften und Versen materialisierte. Wenn Cellini keine äußeren Gegner hatte, wurde er sein eigener, indem er seine Erstentwürfe zu übertreffen und seine Werke zu optimieren versuchte.

      Cellini war nicht der einzige Künstler, der gewalttätig war. Sein Zeitgenosse und Feind Leone Leoni, der nach Cellinis Inhaftierung dessen Nachfolger an der päpstlichen Münze wurde, kam ihm an Heftigkeit des Temperaments gleich. Leoni erschlug einen Kollegen, verletzte in Zweikämpfen mehrere Gegner und leistete Strafdienst auf päpstlichen Galeeren. Leoni soll es auch gewesen sein, der Cellini später mit einem zerstoßenen Diamanten vergiften wollte. Aber im Gegensatz zu Leoni definierte Cellini seine Persönlichkeit auch über das Soldatendasein und damit über das anerkannte Handwerk des Tötens. Cellini bemerkt in einem Kapitel seiner Vita ausdrücklich, dass der Soldatenberuf der ihm entsprechende sei. Er ähnelte damit seinen Ahnen, die sich dem Waffenhandwerk widmeten: „kann ich mich [doch] rühmen, meine Herkunft auf tapfere Vorfahren zurückzuführen“.

      Die virtuose Anwendung von Gewalt, sei es im Duell oder im Krieg, war für Cellini eine Kunstform, wie im Übrigen alle seine Handlungen künstlerischen Charakter haben. Cellinis Handhabung der Kanonen in der Engelsburg, die er