roter Farbe geschrieben worden. Weiter links standen »Scharlatan« und »Heuchlerin«. Olivia schob sich zwischen den Gaffern hindurch, bis sie vor dem Polizeiabsperrband stand. Ein paar Meter weiter von ihr entfernt wurde gerade Rebecca Reach verhört. Die Galeristin trug ein elegantes dunkelblaues Kostüm. Die blonden Haare hatte sie, wie auf dem Bild im Flyer, zu einem Dutt gebunden. Ihre Bewegungen waren anmutig und weiblich, als hätte sie sie vorher genau einstudiert. Olivia schätzte sie auf Ende vierzig. Die Gazetten im Internet waren sich diesbezüglich nicht einig. Rebecca machte einen großen Hehl um ihr wahres Alter. Gerade presste sie sich ein Taschentuch abwechselnd auf die Nase oder die Augen, um ihre Tränen abzuwischen, während sie mit dem Officer sprach und ihre Aussage zu Protokoll gab. Olivia stellte sich auf die Zehenspitzen, um mehr erkennen zu können. In der Galerie standen jede Menge unterschiedlicher Skulpturen. Gebilde mit Tentakeln oder Gnome, die im Schneidersitz saßen und Pfeife rauchten. Olivia erinnerte sich, dass das letzte Motto der Ausstellung »Ein Sommernachtsalbtraum« war. Der Künstler hatte irgendeinen Hass auf Shakespeare und diesen in seinen Skulpturen ausgelebt. Jetzt hatte jemand anderes seinen eigenen Hass ausgelebt und die halbe Galerie verwüstet. Die meisten Skulpturen waren mit roter Farbe beschmiert, an der linken Wand stand in großen Buchstaben »Lügnerin« geschrieben. Und zwar quer über Schwarz-Weiß-Fotografien der Stadt New York hinweg. An einer anderen Wand das Wort »Mörderin«.
Jemand rempelte Olivia von hinten an, sie torkelte und musste sich an einem Typen abfangen, der direkt vor ihr stand.
»Hey!«, rief dieser und drehte sich um. »Kannst du nicht aufpassen? Verflucht noch mal, das ist ein Armani-Hemd!« Der Junge war nur ein paar Jahre älter als Olivia, trug Jeans und ein weißes, na ja, nun eher kaffeebraunes Hemd und hatte dunkle, leicht gewellte Haare. In einer Hand hielt er einen Becher, mit der anderen begutachtete er den Fleck, der sich auf seiner Brust ausgebreitet hatte.
»Entschuldigung«, stammelte Olivia. »Mich hat jemand geschubst.«
»Ja, klar doch.«
Sie nahm ihre Schultasche von der Schulter und wühlte darin herum. Irgendwo hatte sie doch noch eine Packung Taschentücher.
»Was für ein beschissener Morgen«, brummelte er und stellte den halb vollen Kaffeebecher auf einem Briefkasten ab.
»Hier«, sagte Olivia und reichte ihm die Packung Taschentücher.
Er blickte auf, schien zu überlegen, ob er sie annehmen sollte oder nicht.
»Es tut mir leid«, sagte Olivia noch mal. »Ich zahl dir die Reinigung.« Wie auch immer sie das anstellen sollte. Ein Armani-Hemd kostete bestimmt Aufschlag, nur weil Armani draufstand. »Ich bin Olivia.«
»Chris Archer.« Er nahm die Taschentücher und begann das Hemd trocken zu tupfen. »So eine elende Grütze. Heute geht wirklich alles schief.«
Erst da bemerkte Olivia die Fototasche, die zu seinen Füßen stand. Darauf lag ein Stativ. Ein Manfrotto. Na super, wenn er sich so eins leisten konnte, war die Ausrüstung bestimmt genauso hochwertig.
»Bist du wegen des Wettbewerbs hier?«, fragte Olivia möglichst beiläufig. Wenn Chris zu ihrer Konkurrenz gehörte, konnte sie einpacken.
»Nein. Ich bin der Assistent von Lucian.«
»Ist ja cool.« Was für ein klasse Spruch, Oliv. Damit beeindruckst du ihn sicher.
Chris blickte auf, musterte Olivia kurz und wandte sich wieder seinem Hemd zu. Doch statt den Schaden zu beheben, machte er den Fleck eher größer.
Olivia beobachtete ihn dabei. Der ist ja richtig schnuckelig. Seine braunen Augen haben fast den gleichen Farbton wie seine Haare. »Wie gesagt, ich zahl dir gerne die Reinigung«, sagte sie leise.
»Lass gut sein. Nach dieser verfluchten Katastrophe ist ein ruiniertes Hemd doch die perfekte Krönung.«
»Weiß man schon, wer eingebrochen ist?«
»Klar doch. Die Polizei hat diesen Fall auf die Prioritätenliste ganz nach oben geschoben. Man munkelt, dass sie sogar Kollegen vom CSI herbestellt haben. Sie werden alles daran setzen, diese Vandalen zu verhaften. Wo kämen wir hin, wenn jeder einfach ungestraft hässliche Kunstwerke verunstalten könnte?«
»Verstehe. Ihr habt keine Ahnung, wer es war – und die Polizei wird sich einen Dreck darum kümmern.«
Chris blickte sie mit einem Stirnrunzeln an und schüttelte den Kopf. »Eine Schnellmerkerin, sieh mal einer an.«
»Chris!«, rief ein Mann auf einmal.
Olivia und Chris drehten sich gleichzeitig um. Für eine Sekunde verschlug es ihr den Atem. »Das ist Lucian McAllister.« Der Modefotograf. Der Gott. Der ultimative Superheld. Wobei Olivia ihn sich größer vorgestellt hatte. Er stand neben Rebecca Reach, die ihn um fast einen halben Kopf überragte. Die hatten bestimmt bei den Bildern in der Zeitung getrickst.
Chris seufzte. »Der Herr und Meister ruft. Hier.« Chris gab Olivia das Päckchen Taschentücher zurück und schnappte sich den Kaffee, den er vorhin auf dem Briefkasten abgestellt hatte. »Ich werde mir mal den nächsten Anschiss abholen. Lucian hasst kalten Kaffee, aber da ich meinen Job vermutlich eh verliere, spielt das keine Rolle.«
»Aber du wirst doch nicht wegen des Einbruchs deinen Job verlieren?! Was kannst du denn dafür?«
»Alles. Ich war für den Wettbewerb und für die neue Ausstellung von Lucian verantwortlich. Ich habe dafür zu sorgen, dass alles reibungslos läuft.«
»So ein Quatsch.«
»Schön. Genau das werde ich Lucian sagen: So ein Quatsch. Das stimmt ihn bestimmt milder.« Chris schüttelte den Kopf, hob die Fototasche auf und setzte sich in Bewegung.
»Oh, eine Frage noch«, rief Olivia ihm nach: »Wo kann ich mich für den Wettbewerb einschreiben?«
»Beim lieben Gott vielleicht. Der Wettbewerb ist natürlich abgesagt.«
»Was? Nein! Das könnt ihr doch nicht machen.«
»Sag das der Polizei. Die Galerie bleibt bis auf Weiteres geschlossen. Ein Traum!«
»Aber wenn der Täter geschnappt wird, kann der Wettbewerb doch stattfinden, oder?«
Eine Antwort erhielt sie nicht. Chris schlängelte sich durch die Menschenmenge und brachte Lucian den nur noch halb vollen Kaffeebecher. Lucian nahm einen kleinen Schluck und schüttelte verärgert den Kopf.
Ein Traum. In der Tat. Und dieser platzte gerade wie eine dicke, fette Seifenblase. Olivia brauchte diesen Wettbewerb. Sie knabberte an ihrer Unterlippe, drehte um und folgte den Menschen, die sich bereits wieder zerstreuten, um ihrer Arbeit nachzugehen. Der Einbruch war eine kurzzeitige Sensation, eine Ablenkung vom Alltag, die so schnell verpuffte, dass heute Abend kein Hahn mehr danach krähen würde. Und genauso würde es die Polizei auch handhaben. Ein wenig recherchieren, dann den Fall als »ungelöst« zu den Akten legen. Fertig.
Also hieß es selbst kreativ werden. Olivia lief zurück zu ihrem Auto. Sie würde Hilfe brauchen und wusste auch schon, wen sie darum bitten könnte.
*
Zur rüstigen Eiche
Dienstag nach der Schule
Danielle tippte auf ihrem neuen iPhone herum, während sie die Drehtüren Zur rüstigen Eiche passierte. Die Seniorenresidenz, in der ihre Gran lebte. Danielle musste unbedingt die Fortschritte der letzten Reitstunde aufschreiben, immerhin hatte sie heute zum ersten Mal den fliegenden Galoppwechsel geschafft.
»Obacht, junge Frau«, rief ein älterer Mann auf einmal.
Danielle blickte auf und bremste. Sie wäre fast in einen Opi gelaufen, der im Rollstuhl saß. Er trug ein langes Nachthemd, um den Hals baumelte eine Sauerstoffmaske.
»Tut mir leid, ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Das habe ich bemerkt.«