Ulrich March

Kleine Geschichte deutscher Länder


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Königreich Burgund nicht durchsetzen, die zeitweilige Vision eines Bayern von der Eger bis zum Po sagt jedoch viel über das Selbstverständnis und das politische Selbstbewußtsein des neuen Stammesstaates aus.

      Auch in ottonischer Zeit behält Bayern seine starke Stellung. 947 überträgt Otto der Große seinem Bruder Heinrich das Herzogsamt, der in Bayern eine ottonische Nebenlinie begründet. Mit Unterstützung des aufstrebenden deutschen Königtums setzt Heinrich die Expansionspolitik Arnulfs fort: Als er 952 Herzog von Friaul (Istrien, Aquileja, Verona) wird, reicht Bayern im Süden fast bis zur Adria.

      Eine europäische Rolle spielen die Bayern in und nach der Lechfeldschlacht des Jahres 955, die den Ungarneinfällen nach Deutschland und Italien ein Ende setzt und die Voraussetzung für die Einbeziehung Ungarns in das christliche Abendland bildet. Die Bayern stellen drei der sieben Heerhaufen des Reichsaufgebots und sperren nach der Schlacht sofort die Rückzugswege der geschlagenen Ungarn. Indem sie die nach Osten zurückflutenden Feinde auf vertrautem Terrain, zwischen Lech und Enns, stellen und vernichten, wird der deutsche Sieg erst perfekt.

      Die nach der Schlacht erneut einsetzende Ostsiedlung macht die Bayern am Leithagebirge und im Burgenland zu unmittelbaren Nachbarn der sich nun in der Theiß-Donau-Ebene einrichtenden Ungarn, deren historische Entwicklung sie in der Folgezeit maßgeblich mitbestimmen. Das Erzbistum Salzburg nimmt die Mission auf, deutscher Handel und deutsche Kultur wandern donauabwärts – es sind die Bayern gewesen, die damals die Grundlagen für das bis heute meist gute Verhältnis zwischen Deutschen und Ungarn geschaffen haben.

      Die eindeutige Westorientierung der Ungarn, ebenfalls eine historische Konstante, geht auf König Stephan den Heiligen zurück, der das Land von 997 bis 1038 regiert und es durch Gründung des Erzbistums Gran um die Jahrtausendwende in die christliche Kirchenorganisation integriert. 955 heiratet er die bayerische Prinzessin Gisela, die Schwester des späteren Kaisers Heinrich II. Sie hat in den 43 Jahren ihrer Ehe und danach viel für den deutschen Einfluß einerseits, für die Westorientierung Ungarns andererseits getan.

      Als mit dem Tod Ottos III. (1002–1024) die ottonische Hauptlinie erlischt, kommt die süddeutsche Nebenlinie zum Zuge. Mit der Wahl Heinrichs II. zum deutschen König (1024–1039) übernimmt erneut ein Bayer die Führung des Reiches. Die Wahl ist Deutschland nicht schlecht bekommen, denn es gelingt dem neuen König, die Schwächeperiode der letzten Jahrzehnte zu überwinden und die Interessen des deutschen König- und Kaisertums gegenüber Polen, Böhmen, Ungarn und dem Heiligen Stuhl zu wahren. Seine größte innenpolitische Leistung, die Gründung und der Ausbau des Bistums Bamberg, ist auch dem Wunsch entsprungen, ein Verbindungsglied zwischen der bayerischen Machtbasis und dem Norden des Reiches zu schaffen.

      In dieser Zeit nimmt die Bedeutung Bayerns für die europäische Geschichte erneut stark zu. Der Donauhandel, weitgehend über Regensburg abgewickelt, expandiert; die Stadt gewinnt besondere Bedeutung als Stapelplatz für byzantinische Tuche. In ganz Polen wird mit bayerischen Denaren bezahlt; das Regensburger Kloster St. Emmeram unterhält sogar eine ständige Vertretung in der russischen Hauptstadt Kiew. Auch die Kreuzfahrerheere, soweit sie auf dem Landwege nach Palästina ziehen, versammeln sich regelmäßig in Regensburg. Kunst und Kultur des Ostens, etwa byzantinische Goldschmiede-, Steinmetz- und Buchmalkunst, werden dem Abendland damals weitgehend über Bayern vermittelt.

      Eine letzte Glanzepoche erlebt der bayerische Stammesstaat unter den welfischen Herzögen (seit 1070), vor allem unter Heinrich dem Stolzen (1126–1139) und Heinrich dem Löwen (1139–1180). Heinrich der Stolze, der von seinen italienischen Vorfahren her auch über erheblichen Besitz in der Toskana verfügt, gewinnt durch seine Heirat mit Gertrud von Supplinburg, der Erbtochter des deutschen Königs und sächsischen Herzogs Lothar, zu seiner bayerischen auch die sächsische Herzogswürde und ist damit der mächtigste Fürst im Reich. Eben deshalb wird 1138 der schwächere Staufer Konrad III. (1138–1152) zum deutschen König gewählt – das Signal zum staufisch-welfischen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf fast zwei Jahrzehnte lang vor allem weite Gebiete Süddeutschlands verheert werden.

      1156 kommt es in Regensburg zum Ausgleich zwischen dem neuen König Friedrich Barbarossa und seinem Vetter Heinrich dem Löwen, dem seine beiden Herzogtümer bestätigt werden. Er muß jedoch auf die Mark „Ostarrichi“, etwa das Gebiet des heutigen Bundeslandes Niederösterreich, verzichten. Damit ist die politische Trennung zwischen westlichem und östlichem Stammesgebiet vollzogen.

      Obwohl in der Sicht Heinrichs des Löwen Bayern mehr ein Nebenland darstellt, hat das Herzogtum doch erheblich von der königsgleichen Stellung seines Herrschers profitiert. An europaweiten Aktivitäten des Herzogs, etwa an den Italienzügen, sind in erheblichem Anteil auch Angehörige des bayerischen Adels beteiligt. Bayern gewinnt durch seine Lage zwischen Italien und Norddeutschland neue Bedeutung.

      Beim Sturz Heinrichs des Löwen wird 1180 sein süddeutsches Herrschaftsgebiet auf die neuen „Regionalherzogtümer“ Österreich, Kärnten, Steiermark und Bayern aufgeteilt. Die über sechshundertjährige Geschichte des bayerischen Stammesstaates ist damit zu Ende. Unter dem „Herzogtum Bayern“ versteht man in der Folgezeit das bayerische Stammesgebiet im Süden und Osten des heutigen Freistaats, ein nur mehr mittelgroßes Territorium, das jedoch für Süddeutschland von Bedeutung bleibt.

       I.Kirche und Kultur im Alpenrandraum (Reichsabteien St. Gallen und Reichenau, Erzbistum Salzburg)

      Nirgendwo in Mitteleuropa stößt man auf so viele Kirchen, Kapellen, Klöster und Flurheiligtümer, Heiligenfiguren, Kreuzsäulen und Madonnenbilder wie im Donau-Alpen-Raum, besonders in Tirol, Oberschwaben, Ober- und Niederbayern und weiter donauabwärts. Schon rein äußerlich läßt sich erkennen, daß diese Region über viele Jahrhunderte hinweg zutiefst vom christlichen Glauben geprägt worden ist, daß hier kirchliches Leben und kirchliche Kultur fest verankert sind. Die Region wird bereits sehr früh christianisiert, nach ersten Ansätzen in der Römerzeit im wesentlichen zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert, also viele Jahrhunderte vor Nord- und Ostdeutschland. In karolingischer und ottonischer Zeit erweist sich gerade das Gebiet nördlich der Alpen als Ausstrahlungsraum abendländischer Kultur, wobei Klöster und Bistümer die eigentlichen Strahlungszentren darstellen.

      Gegen Ende des 6. Jahrhunderts treten hier die ersten fränkischen und iro-schottischen Wanderprediger auf, die teilweise noch an ältere christliche Traditionen anknüpfen können. Reste des antiken Christentums lassen sich vor allem in Regensburg, Augsburg und Salzburg nachweisen. Manche der einwandernden Alemannen und Bayern dürften den christlichen Glauben somit gleich angenommen haben; in Säben (Tirol) bleibt sogar ein römischer Bischofssitz erhalten, der später nach Brixen verlegt wird. Die eigentliche Kirchengeschichte des Nordalpenraumes setzt jedoch erst mit dem Auftreten von Gallus, Kolumban, Fridolin, Pirmin, Magnus, Emmeram, Rupert, Vivilo und Korbinian ein, mit der Gründung der Bistümer Konstanz (um 600) für das alemannische und Regensburg (Anfang des 8. Jahrhunderts) für das bayerische Stammesgebiet und mit der Schaffung der bayerischen Bistumsorganisation durch Bonifatius im Jahre 739 (Einrichtung der Bistümer Passau, Freising und Regensburg sowie des späteren Erzbistums Salzburg).

      Gesamteuropäische Bedeutung gewinnt zunächst die Reichsabtei St. Gallen. Im Jahre 612 gründet der heilige Gallus eine Mönchsniederlassung, in der er mit zwölf irischen Gefährten – nach dem Beispiel Christi und der zwölf Apostel – bis zu seinem Tode um die Jahrhundertmitte lebt. Daraus entwickelt sich im Laufe des 8. Jahrhunderts ein Benediktinerkloster, das von den karolingischen Königen besonders gefördert wird und den Status einer Reichsabtei erhält. Vor allem unter Abt Grimalt (841–872), dem Kanzler Ludwigs des Deutschen, ist die Abtei, die inzwischen in der heutigen Ostschweiz große Besitzungen erworben hat, eines der führenden Kulturzentren des Kontinents.

      In St. Gallen, das im 9. und 10. Jahrhundert durch seine umfangreiche Bibliothek und seine hochrangige Buchmalerei berühmt ist, herrscht während der gesamten spätkarolingischen und ottonischen Epoche reges geistiges Leben. Aus der großen Zahl der dort tätigen Mönche ist neben dem Historiker und Dichter Ratpert und dem Maler, Architekten und Musiker Tutilo vor allem Notker der Stammler hervorzuheben. „Notker Balbulus“, wie er offiziell heißt, lebt von etwa 840 bis 912 und wirkt in St. Gallen als