oder abgetretene Gebiete bleiben im allgemeinen vom Zeitpunkt ihres Ausscheidens an außerhalb der Betrachtung, doch werden die Geschichte der Schweiz seit 1648 und die Österreichs seit 1866 in einem Exkurs dargestellt.
II. Stammesstaaten (bis 1180)
1. Die Stämme, das Königtum und das Imperium
Vor Mitte des ersten Jahrtausends ist es im heutigen Deutschland zu keinen großräumigen Herrschaftsbildungen gekommen. Zu Beginn unserer Zeitrechnung siedeln hier zahllose germanische Kleinstämme. Eine Zentralgewalt gibt es nicht; die römische Herrschaft endet an Rhein, Limes und Donau. Seit Anfang des dritten Jahrhunderts verschwinden die bisherigen Stammesverbände; an ihre Stelle treten Großstämme, von denen sechs – Friesen, Franken, (Nieder-)Sachsen, Thüringer, Alemannen und Bayern – bis zum heutigen Tag die Teilethnien des deutschen Volkes bilden. Die neuen Stämme organisieren sich als Personenverbände; die wichtigsten politischen Organe sind die Stammesversammlung, der Stammesherzog und – auf unterer Ebene – die Gauversammlungen. Erst mit der Ostexpansion des fränkischen Großreiches, das seinen Schwerpunkt in Nordfrankreich hat, ändern sich die Verhältnisse. Die Franken unterwerfen zunächst die Thüringer, dann die Friesen und die Alemannen, im Zeitalter Karls des Großen (768–814) schließlich auch die Bayern und die Sachsen. Zum ersten Mal gehört alles Land bis zur Slawengrenze an Elbe, Saale und Enns einem gemeinsamen staatlichen Verband an, dessen König über seine Grafen, die Inhaber des Königsbanns auf unterer Ebene, seinen Willen zur Geltung bringt.
Aber wie später noch sooft in der deutschen Geschichte, wie noch während der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur des 20. Jahrhunderts, sind die regionalen und föderalen Potenzen nur zeitweilig durch die Zentralgewalt überlagert, nicht wirklich beseitigt worden. Sie leben sofort wieder auf, als die spätkarolingischen Könige, durch die Reichsteilung von Verdun (843) geschwächt, bei der Abwehr der gerade damals besonders aggressiven Ungarn, Slawen und Normannen versagen. Es kommt – vom Rhein-Mosel-Gebiet abgesehen – überall zur Renaissance der alten Stammesstaaten, wobei in der Regel ein Angehöriger einer im Abwehrkampf besonders bewährten Familie die Herzogswürde übernimmt und eine regionale Machtstellung erringt, gegenüber der die Zentralgewalt in den Hintergrund tritt.
An dieser machtpolitischen Konstellation ändert sich zunächst auch nach Beginn der eigentlichen deutschen Geschichte noch nichts. Das Deutsche Reich, das sich 911 durch die Wahl des Frankenherzogs Konrad zum König als eigenständiger Nachfolgestaat des Frankenreiches konstituiert, ist eine lockere und äußerst labile Konföderation von Stammesherzogtümern; König Konrad I. (911–919), ohnehin nur „primus inter pares“, kann sich zu keinem Zeitpunkt außerhalb seines eigenen Herzogtums durchsetzen.
So sind also bereits bei Beginn der deutschen Geschichte die politischen Gewichte eindeutig zugunsten der Regionalgewalten verteilt; ein Zerfall der eigentlich nur nominellen königlichen Zentralgewalt und damit langfristig die Balkanisierung Mitteleuropas hätte durchaus im Bereich des historisch Möglichen gelegen.
Daß es anders gekommen ist, verdankt Deutschland dem politischen Wirken einer ganzen Reihe von Königen, unter denen vor allem die beiden ersten Ottonen, Heinrich I. (919–936) und Otto der Große (936–973), der Salier Konrad II. (1024–1039) und der Staufer Friedrich Barbarossa (1152–1190) hervorzuheben sind. Um die Mitte des 10. Jahrhunderts gewinnt das Königtum die politische Prärogative gegenüber den Regionalgewalten und entwickelt auch in der Folgezeit eine so starke Eigendynamik, daß die Stammesstaaten demgegenüber in den Hintergrund treten, fortlaufend schwächer werden und schließlich um 1200 erneut als politische Einheiten verschwinden.
Doch wiederum sind die regionalen Kräfte keinesfalls ausgeschaltet; trotz aller Kaiserherrlichkeit kann von einem Weg in einen wie auch immer gearteten Zentralstaat keine Rede sein. Erben der Stammesherrschaft sind schließlich nicht die Könige und Kaiser, sondern die fürstlichen Landesherren, deren Territorien sich seit dem 10. Jahrhundert sehr stark entwickeln. Ihre Stellung beruht vielfach auf Grundlagen, die das Königtum, um Gegengewichte gegen die Stammesgewalten zu errichten, seit dem 10. Jahrhundert selbst geschaffen hat. Das ist beispielsweise bei den geistlichen Reichsfürsten der Fall, denen seit Otto dem Großen erhebliche politische Befugnisse übertragen worden sind.
Die regionalen und lokalen Machthaber profitieren insbesondere von den großen reichspolitischen Auseinandersetzungen, vor allem vom Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst (1074–1122) und den beiden staufisch-welfischen Bürgerkriegen Mitte des 12. Jahrhunderts und um 1200.
Die Fürsten lassen sich ihre jeweilige Parteinahme durch immer umfassendere politische Privilegien entgelten; wo die Zentralgewalt nicht zu Geltung kommt, entstehen überdies Herrschaften „aus wilder Wurzel“, also ohne reichsrechtliche Legitimation.
Das Königtum hat durchaus versucht, dieser bereits früh einsetzenden Territorialisierung entgegenzuwirken. Erste und wichtigste Machtgrundlage der Zentralgewalt ist dabei das von Otto dem Großen begründete ottonisch-salische Reichs-Kirchen-System. Durch die Übertragung politisch-administrativer Befugnisse an hohe kirchliche Würdenträger wie Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte großer Klöster schafft sich das Königtum eine loyale Gefolgschaft, die sich in der Regel auch deswegen königstreu verhält, da die Geistlichkeit aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Heidenmission, an einem starken Imperium interessiert ist. Der Vorteil des Systems für das Reich besteht darin, daß, da die Bischöfe keine legitimen Erben haben, ihre Positionen im Todesfall immer wieder mit zuverlässigen Leuten besetzt werden können, häufig mit speziell auf ihre politische Aufgabe vorbereiteten Mitgliedern der Hofkapelle.
Die Hofkapelle dient nämlich nicht nur der gottesdienstlichen Versorgung des Hofes, sondern auch als Nachwuchsschule für hohe Staatsämter. Die wechselseitige Beziehung zwischen Reich und Region, wie sie für das Reichs-Kirchen-System typisch ist, kommt bei dieser Institution besonders deutlich zum Ausdruck. Befähigte junge Adlige aus allen Teilen des Reiches leisten einige Zeit ihren Dienst, bevor sie bei Vakanz eines Bischofsstuhls in die Region zurückversetzt werden und hier – in genauer Kenntnis der Intentionen der jeweiligen königlichen Politik – als Hoheitsträger des Reiches fungieren. Vielfach übernehmen sie darüber hinaus auch zentrale Reichsämter, so stets die der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, die zu den engsten Ratgebern des Königs gehören und die drei Reichskanzleien – für die Königreiche Deutschland, Italien und Burgund – leiten. In diesen Kanzleien wiederum arbeiten und lernen die jungen Geistlichen der Hofkapelle, so daß eine ständige Verbindung zwischen königlicher Zentralgewalt und regionalem Hochadel besteht. Dieses enge Zusammenwirken von Reich und Region, von königlicher Zentralgewalt und politischen Kräften vor Ort ermöglicht es überhaupt erst, ein so großes Reich ohne technische Kommunikationsmittel zu regieren.
Eine weitere Machtbasis des Königtums bilden die Reichsburgen, die seit Konrad II. (1024–1039) vor allem in Franken, in Südwest- und Mitteldeutschland errichtet und mit Reichsministerialen besetzt werden, ursprünglich unfreien Rittern, die eben deshalb unbedingt loyal sind, den Kern des Reichsheeres stellen und vor Ort die Präsenz der Reichsgewalt verkörpern. Die Staufer (1138–1254) bauen das Netz der Reichsburgen immer mehr aus und ergänzen es durch hunderte von „Freien Reichsstädten“, die für das Königtum aus wirtschaftlichen Gründen und als Gegengewicht gegen die Fürsten von größter Bedeutung sind. In manchen Gegenden häufen sich Königsland, Pfalzen, Reichsburgen und Freie Reichsstädte so stark, daß man von „Reichslandschaften“ spricht. So erstreckt sich ein breiter Gebietsstreifen mit zahlreichen reichsunmittelbaren Herrschaften vom Elsaß über das Bodensee- und Neckargebiet nach Mittel- und Mainfranken und von dort über Nordthüringen und das Harzgebiet bis Sachsen.
Friedrich Barbarossa (1152–1190) und sein Sohn Heinrich VI. (1190–1197) haben zum letzten Mal einen groß angelegten Versuch unternommen, dem längst eingetretenen Territorialisierungsprozeß Einhalt zu gebieten und die Machtstellung des Königtums gegenüber den immer stärker aufkommenden fürstlichen Regionalgewalten zu festigen („staufische Reichsreform“). Durch die systematische Förderung aller reichsunmittelbaren Herrschaften, die Umwandlung der letzten Stammesherzogtümer in kleinere und folglich schwächere „Gebietsherzogtümer“,