an den König hofft man, die Stammesgewalten endgültig auszuschalten und der territorialen Zersplitterung begegnen zu können.
Das erste Ziel wird erreicht, das zweite nicht. Der frühe Tod Heinrichs VI., der wieder aufflammende staufisch-welfische Bürgerkrieg, vollends dann die Katastrophe des staufischen Hauses und der zeitweilige Ausfall der Zentralgewalt („Interregnum“ 1254–1273) lassen die Bedeutung der Regionen immer mehr steigen, die des Königtums immer mehr sinken. Die Erben der Stammesherzöge sind nicht Könige und Kaiser, sondern die Landesherren.
Deutschland ist auf Grund seiner geographischen Zentrallage seit jeher stark in die europäische Gesamtentwicklung involviert, stärker jedenfalls als manche anderen Teile des Kontinents. Von Anfang an haben sich sowohl Könige als auch regionale Machthaber nicht nur mit konkurrierenden Gewalten im Inneren, sondern auch mit auswärtigen Mächten auseinanderzusetzen. Unter Otto dem Großen (936–973) wächst die Reichspolitik ganz in europäische Dimensionen hinein. Otto schiebt die Reichsgrenzen im Osten bis zur Oder vor, vereinigt Deutschland mit Ober- und Mittelitalien, schlägt die Ungarn endgültig in der Schlacht auf dem Lechfeld (955) und befreit damit nicht nur das christliche Abendland von einer ständigen Gefahr, sondern schafft auch die Voraussetzungen für Siedlung und Mission im Südosten und für die Einbeziehung der Ungarn in die europäische Völkerfamilie.
Es entspricht daher der inneren Logik des Geschehens, wenn Otto im Jahre 962 zum römischen Kaiser gekrönt wird und damit das höchste Amt der Christenheit wahrnimmt. Die Deutschen, die sich bis dahin kaum als einheitliche Nation begriffen haben, werden damit in Nachfolge der Römer und der Franken zu Trägern der imperialen Idee, zur Reichsnation. Das Regnum wird zum Imperium, der deutsche König ist als römischer Kaiser Schutzherr der Christenheit, die sich laut Missionsbefehl Christi „in alle Welt“ ausbreiten soll; auch wenn sich die „Welt“ damals noch auf Europa beschränkt, ist das Kaisertum also mit besonderer Verantwortung für den christlichen Glauben und die christliche Kirche verbunden.
Otto der Große hat nicht gezögert, diesen Erwartungen an sein Amt gerecht zu werden. Mit der Eroberung des Elb-Oder-Raumes korrespondiert die Errichtung des Erzbistums Magdeburg, das im Osten ein unbegrenztes Missionsfeld erhält. Die Missionsaufgabe für den Südosten übernimmt das 799 gegründete Erzbistum Salzburg, das erst jetzt, nach der Zurückdrängung der Ungarn, seine volle Wirksamkeit entfalten kann. Für den Norden ist das Erzbistum Hamburg zuständig, das ebenfalls bereits in karolingischer Zeit gegründet worden ist, seine eigentliche Bedeutung aber erst jetzt mit der in großem Stil betriebenen Missionsarbeit in Dänemark, Norwegen, Island, Schweden und im Baltikum gewinnt. Mit welcher Selbstverständlichkeit Otto dabei vom Grundgedanken der Gemeinsamkeit kirchlicher und politischer Expansion ausgeht, zeigt sich daran, daß, wo immer die Möglichkeit dazu besteht, die Missionsarbeit der Reichskirche und die Markenpolitik des Reiches aufeinander abgestimmt sind und Hand in Hand gehen. Auch aus vielen Einzelmaßnahmen ergibt sich die Grundvorstellung des Königs, etwa aus der Tatsache, daß er 948 in Schleswig, Ripen und Aarhus, also außerhalb der deutschen Grenzen, drei neue Bistümer errichten läßt und sie der Hamburger Kirche unterstellt.
Die imperiale Stellung des Reiches hat die von der Geographie vorgegebene Notwendigkeit der Begegnung mit zahlreichen Nachbarn, vom geistigen Austausch bis zur kriegerischen Auseinandersetzung, erheblich ausgeweitet. Durch die Personalunion mit Italien und Burgund treten insbesondere die süddeutschen Stämme in enge Verbindung mit ihren romanischen Nachbarn im Süden und Westen. Durch die Ostsiedlung, an der im Norden vor allem Niederdeutsche, im Süden vor allem Bayern beteiligt sind, eröffnet sich östlich des Altsiedellandes ein viele hundert Kilometer tiefer Begegnungsraum zwischen Deutschen und Slawen. Zahllose Ritter aller deutschen Stämme haben, da die Verbindung nach Rom, dem Ort der Kaiserkrönungen, politisch und militärisch gesichert werden mußte, an den Heerfahrten „über Berg“ nach Italien teilgenommen. Auch zu den Kreuzzügen brechen immer wieder Ritterheere aus allen deutschen Ländern auf; gerade bei diesen Unternehmungen läßt sich das spannungsreiche Mit- und Gegeneinander regionaler, nationaler und europäischer Kräfte besonders klar erkennen.
2. Länderübersicht
Entlang der Nordseeküste – von Sinkfal bei Brügge bis zum Land Wursten östlich der Wesermündung – erstreckt sich das Siedlungsgebiet des friesischen Stammes, hinzu kommt mit der friesischen Besiedlung im frühen Mittelalter noch das im Norden des heutigen Schleswig-Holstein gelegene Nordfriesland mit den Inseln Sylt, Föhr, Amrum, den Halligen und Helgoland. Die Friesen, zunächst wie die anderen Stämme von Herzögen regiert, haben nach dem Zerfall des Fränkischen Reiches kein neues Stammesherzogtum entwickelt. Die Randbezirke ihres Siedlungsgebietes fallen vielmehr an andere Territorien, vor allem an die Grafschaften Seeland, Holland und Geldern, das Bistum Utrecht und das Erzbistum Hamburg-Bremen. Nordfriesland steht – bei lokaler Selbstverwaltung – unter der Oberhoheit der schleswigschen Herzöge und der dänischen Könige.
Im Kernbereich des Stammesgebietes, in Ostfriesland und im später niederländischen Westfriesland, entsteht ein System von „Ländern“, von denen das Jeverland, Harlingen, Ammerland, Butjadingen, Wursten, Stedingen und Rüstringen die bekanntesten sind. Es handelt sich dabei um kleine Bauernrepubliken, deren freiheitlich-genossenschaftliche Verfassung insbesondere durch das große Deichbauwerk um die Jahrtausendwende kräftige Impulse erhält. Sie schließen sich später zu einer lokkeren Konföderation zusammen, dem „Upstalsboomverband“. Einmal im Jahr versammeln sich die Vertreter der „Länder“ am Upstalsbaum bei Aurich, um über gemeinsame Angelegenheiten zu beraten.
Südlich und östlich des friesischen Gebiets erstreckt sich bis 1180 das Stammesherzogtum Sachsen. Es umfasst den gesamten niederdeutschen Raum, von der Eider bis zur hochdeutschen Sprachgrenze, die über das Rothaargebirge, den Kaufunger Wald und den Harz verläuft. Der Stamm umfasst zunächst etwa hundert Gaue, von denen drei, der Holsten-, Stormarn- und Dithmarschengau, nördlich der Elbe gelegen sind („Nordelbingen“). Der Machtschwerpunkt der Stammesherzöge liegt im Osten, wo die verschiedenen Dynastien jeweils beträchtliche Eigengüter besitzen, so die Ottonen vor allem im Harz-Elbe-Raum, die Welfen innerhalb eines von Göttingen bis Hamburg reichenden Gebietsstreifens. Der Welfe Heinrich der Löwe, der als Herzog von Sachsen und Bayern zeitweilig eine königsgleiche Stellung erlangt, bringt überall in rigoroser Weise seine Herrschaft zur Geltung, auch in Teilen des vormals slawischen Neusiedellandes östlich der Elbe. Mit seinem norddeutschen „Einheitsstaat“ nimmt er gleichsam das spätere Preußen vorweg.
Auch in diesem scheinbar noch im 12. Jahrhundert so fest gefügten Stammesstaat hat allerdings bereits seit Otto dem Großen die Territorialisierung eingesetzt. In Westfalen und an der Ems gewinnt das Bistum Münster erheblichen politischen Einfluß, am Teutoburger Wald das Bistum Osnabrück, zwischen unterer Weser und unterer Elbe das Erzbistum Hamburg-Bremen, das hier die frühere Grafschaft Stade beerbt, im südlichen Westfalen das Erzbistum Köln. Geringere Bedeutung haben die Bistümer Paderborn, Minden, Verden, Hildesheim und Halberstadt, in politischer Hinsicht auch das Erzbistum Magdeburg, erst recht die Reichsabteien Corvey, Gandersheim und Quedlinburg.
Die weltlichen Territorien spielen bei weitem noch nicht die Rolle wie nach dem Sturz Heinrichs des Löwen. Wichtig sind zeitweilig die Grafschaften Stade, Arnsberg und Northeim, weniger die Grafschaften Dassel, Wernigerode, Blankenburg, Dannenberg und Schwerin. Überregionale Bedeutung gewinnt die Grafschaft Holstein, in der 1111 die von der mittleren Weser stammenden Schauenburger zur Herrschaft gelangen (bis 1459). Diese Dynastie bricht die Macht der bis dahin nördlich der Elbe tonangebenden alten Gauverbände, gibt den Anstoß zur Ostsiedlung und erobert nicht nur das ehemals slawische Ostholstein, sondern auch das Herzogtum Schleswig, ein dänisches Grenzterritorium, das von der Eider bis zur Königsau reicht und damit auch den südjütischen Teil des heutigen Dänemark umfaßt.
Den Anstoß zu einer planmäßigen Ostmarkenpolitik gibt Lothar von Supplinburg, Herzog von Sachsen, deutscher König (1125–1138) und römischer Kaiser. Er setzt die Schauenburger in Holstein, die Askanier in Brandenburg und die Wettiner in der Mark Meißen ein, wo sie – später als Herzöge und Könige von Sachsen, zeitweilig auch von Polen – bis 1918 regiert haben. Heinrich der Löwe gründet im Slawenland die Grafschaften