Tariq Ali

Die extreme Mitte


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lautete ihr Motto. Diese kaum neue Vorstellung und die Offensive, mit der sie verbunden war, führte zu einem tiefen Bewusstseinswandel, einem geistigen und moralischen Umbruch, der zunächst durch die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus angeheizt wurde und später durch die Institutionalisierung der Verschuldung der privaten Haushalte durch leicht zugängliche Hypotheken und Kredite, die dazu bestimmt waren, den neuen Konsumismus zu unterstützen.

      New Labour kam dadurch an die Macht, dass sie ihren traditionellen Unterstützern wenig versprach, wohl aber der City of London versicherte, dass sie nicht nur nichts ändern, sondern über Thatcher hinausgehen und die Aufgabe zu Ende führen werde, die sie sich gestellt habe, nämlich das Land vorwärtszubringen. Schon vor dieser rührenden Zusage hatte der vorausschauende Ex-Finanzminister der Tory-Partei Nigel Lawson in der Financial Times angemerkt, dass die Tragödie der Konfrontation mit den Konservativen in der Tatsache begründet sei, dass Thatchers wahrer Erbe der Oppositionsführer sei – eine Ansicht, die bald aufs Deutlichste bestätigt wurde.

      Die neue Veränderung im System trennte Europa von Großbritannien – doch nicht für lange. Die Schreckensvision der von Washington unterstützten Vorherrschaft des Kapitalismus, wozu auch der Einsatz von Militäreinheiten im Ausland und die Umverteilung des Einkommens von den ärmsten auf die wohlhabendsten Gesellschaftsschichten gehörte, würde langsam und auf unterschiedlichen Wegen Kontinentaleuropa erobern.

      Während Reagans erster Amtszeit verloren Familien mit niedrigem Einkommen 23 Milliarden US-Dollar ihrer Einnahmen und ihrer staatlichen Leistungen, während Familien mit hohem Einkommen mehr als 35 Milliarden Dollar dazu erhielten. Das erklärt, warum Reagan in den wohlhabenden Vorstädten und dem Sun Belt stark unterstützt wurde. In Großbritannien, das unterwürfiger denn je war, wurde die Habgier des Einzelnen schamlos durch die Senkung der Einkommensteuer ermutigt (unterstützt durch die Nordsee-Öl-Goldgrube), dazu kam der Verkauf von Sozialwohnungen und anderen staatseigenen Vermögensgütern. Die Deregulierung des Finanzsektors regte die Bildung einer Klasse von Neuunternehmern an, die wenig nach Sicherheitsbestimmungen für ihre Beschäftigten und deren Gewerkschaftsrechten fragten.

      Eine halluzinatorische Euphorie, unterstützt und begünstigt durch ein unterwürfiges Nachrichtenwesen, trug zur Zementierung des neuen Konsenses bei. Ein intensiver ideologischer Angriff auf die alte Nachkriegsvereinbarung wurde unternommen. Über Nacht wurde die keynesianische Wirtschaft auf den Müll geworfen, als dieser neue soziale, politische, wirtschaftliche und kulturelle Konsens sich breitmachte. Er war hässlich. Er war brutal. Er schien zu funktionieren. Er musste die Vormachtstellung bekommen und das tat er.

      Jene in den Fernsehsendern, die Widerstand leisteten und nicht »einer von uns« sein wollten, wurde kurzerhand beseitigt.

      Mithilfe von Rupert Murdoch von News International und vom Generaldirektor der BBC John Birt begann eine offiziell geförderte Kultur der Konformität Gestalt anzunehmen. Die Situation wurde glänzend auf einem Transparent zusammengefasst, das streikende südkoreanische Arbeiter während eines Generalstreiks in den späten 1980er-Jahren vor einem japanischen transnationalen Unternehmen trugen, das seine Hauptgeschäftsinteressen in Großbritannien hatte. Dort hieß es: »Ihr könnt uns nicht besiegen. Wir sind keine Briten!«

      Mit seiner Politik im Stil der USA wurde Großbritannien zur Start­rampe für das übrige Europa.

      Das ist kein schönes Bild. Die wenigen Wirtschaftswissenschaftler, die nicht mit dem Mainstream schwimmen, werden als krittelnde Kassandras abgelehnt und die politischen Eliten und wichtigsten Bankiers einigen sich auf die Notwendigkeit der Einschränkungen, die fadenscheinige innerstaatliche Kriege gegen einen weitgehend passiven »Feind« begleiten.

      Den noch nie da gewesenen turboaufgeladenen wirtschaftlichen Veränderungen in der westlichen Welt entspricht jedoch keinerlei Wandel in ihren politischen Strukturen. Wenn, wie Peter Mair schreibt, das Zeitalter der Parteipolitik vorüber ist, was wird sie ersetzen? Die folgenden Jahrzehnte werden zweifellos ein Modell bereitstellen.

      Einerseits ziehen kleinere Nationen, die seit Langem in größere Staaten eingebettet sind – Schottland, Katalonien, Kurdistan –, Nutzen aus der Krise und ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen: Sie alle greifen nach der Freiheit, auch wenn ihre Verhältnisse verschieden und ihre Führungen vielgestaltig sind. Andererseits achten europäische Bewegungen von unten ganz genau auf die bolivarischen Republiken Südamerikas. In beiden Fällen kann Verehrung des Status quo oder die Angst davor Einzelne und Bewegungen lähmen. Aber wir leben in einer unbeständigen Welt und Passivität hilft uns nicht weiter.

      Tatsache und Fiktion voneinander zu unterscheiden ist heutzutage nicht so leicht, schon gar nicht im Westen. Aber selbst VerteidigerInnen des Systems finden es immer schwieriger, die kapitalistischen Gesellschaften, die aus den Ruinen des kommunistischen Systems erstanden sind oder die, die sich in der nachkommunistischen Ära neu gestaltet haben, als Beispiele von Wirtschaftsstabilität, Vollbeschäftigung, fortgesetztem Wachstum, sozialer Gleichheit oder individueller Freiheit in irgendeinem bedeutenden Sinn des Wortes abzubilden. Der siegreiche Westen, der seinen alten Feind ideologisch und wirtschaftlich besiegt hat, durchlebt jetzt das Zwielicht der Demokratie.

      Wir, die wir – einige glücklicher als andere – im Westen leben, sind Bürger einer ungeordneten Welt. Eine große Mehrheit von uns hat in unterschiedlichem Ausmaß Anteil an neuen kollektiven Erfahrungen: Arbeitslosigkeit oder Teilzeitbeschäftigung, Verschuldung der privaten Haushalte, Obdachlosigkeit, dazu die Abnahme von Qualität und Verfügbarkeit von Dienstleistungen: Gesundheitsdienst, Bildung,