Tariq Ali

Die extreme Mitte


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wieder aufnehmen können. Und wie zur Bestätigung beschlossen die Deutschen, Luxemburg – das Geldwäschezentrum der europäischen Reichen – zu belohnen, indem sie den Starpolitiker Jean-Claude Juncker zum Präsidenten des Europäischen Rates wählten.

      Die Unfähigkeit der westlichen Regierungen, das System von Grund auf zu reformieren, hatte zu einer Verschärfung der Krise geführt, die nun das Funktionieren der Demokratie an sich bedrohte. In Griechenland und Italien regierten die Bankiers das Land. Die soziale Schicht, die die Krise verursacht hat, lieferte nun Bürokraten, die sich über die Politik hinwegsetzen. Anderswo übte die extreme Mitte die Macht aus, indem sie Sparmaßnahmen förderte, die die Reichen privilegieren, und Kriege und Besetzungen im Ausland unterstützt.

      Wie ist es so weit gekommen? Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1991 verdarb das Geld die Politik und das große Geld verdarb sie vollkommen. In den Kernländern des Kapitals wurden wir zu Zeugen des Entstehens effektiver Koalitionen: in den Vereinigten Staaten der Republikaner und Demokraten, in Großbritannien von New Labour und den Tories, in Frankreich von den Sozialisten und einem Gemisch aus verschiedenen Konservativen, in Deutschland verschiedene Koalitionen, in denen sich die Grünen weitgehend als übertriebene Atlantiker auszeichneten, in Skandinavien die fast identischen Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Koalitionen, die zaghaft vor dem Angesicht des Empires miteinander konkurrierten. In fast allen Fällen verformte sich das Zwei-/Drei-Parteien-System in eine erfolgreiche nationale Regierung.

      Ein neuer Marktextremismus kam ins Spiel. Der Eintritt des Kapitals in die heiligsten Bereiche der Sozialleistungen wurde als eine notwendige »Reform« angepriesen. Private Finanzinitiativen bestraften den öffentlichen Sektor und wurden zur Norm. Länder (wie Frankreich und Deutschland), die nicht schnell genug zum neoliberalen Paradies unterwegs waren, wurden deswegen regelmäßig im Economist und in den Financial Times gerügt. Als konservative Dinosaurier wurden jene beschimpft, die Folgendes taten: diese Wendung infrage stellen, den öffentlichen Sektor verteidigen, die staatliche Eigentümerschaft von Versorgungsunternehmen befürworten, den Ausverkauf von Sozialwohnungen anfechten.

      Die Politiker der extremen Mitte waren, berauscht vom Triumph des Kapitalismus, nicht auf die Krise von 2008 vorbereitet. Ebenso wenig waren es die meisten Bürger, die sich von der Verfügbarkeit billiger Kredite und von zahmen, unkritischen Medien täuschen ließen und glaubten, alles stünde zum Besten. Ihre Führer mochten ja nicht gerade charismatisch sein, aber sie verständen doch, das System zu handhaben. Überlasst nur alles den Politikern! Der Preis für diese zur Norm gewordene Apathie wird jetzt gezahlt.

      (Fairerweise muss man sagen, dass das irische, niederländische und französische Volk in den Auseinandersetzungen um die EU-Verfassung, die den Neoliberalismus festschrieb, eine Katastrophe witterten und gegen sie stimmten. Sie wurden ignoriert).

      Dennoch war es für viele Wirtschaftswissenschaftler offensichtlich, dass die Wall Street die Immobilienblase absichtlich aufpumpte, indem sie Milliarden für Werbekampagnen ausgab, um die Menschen dazu zu verleiten, eine zweite Hypothek aufzunehmen und mehr Schulden zu machen, um das geliehene Geld blindlings für Konsumgüter auszugeben. Die Blase musste platzen, und als sie platzte, wankte das System, bis der Staat die Banken vor dem völligen Zusammenbruch rettete.

      Als die Krise auf Europa übergriff, wurden alle Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln im Zuge der EU-Rettungsaktion für nichtig erklärt. Die Lehren des Marktes fielen praktischerweise dem Vergessen anheim.

      Als einige Länder zusammenbrachen (Island, Irland, Griechenland) und andere (Portugal, Spanien, Italien) in den Abgrund starrten, griff die EU ein, um Sparmaßnahmen durchzusetzen und das deutsche, französische und britische Bankensystem zu retten. Dass es Spannungen zwischen Markt und demokratischer Verantwortlichkeit gab, konnte nun nicht mehr verschleiert werden.

      Die griechische Elite wurde dazu erpresst, sich vollkommen zu unterwerfen, während die Sparmaßnahmen, die die Bürger schlucken mussten, das Land an den Rand einer Revolution brachten. Griechenland ist das schwächste Glied in der Kette des europäischen Kapitalismus, seine Demokratie wurde längst von den Wellen des krisengeschüttelten Kapitalismus weggeschwemmt. Generalstreiks und kreative Proteste machten es der extremen Mitte sehr schwer, ihre Aufgabe zu erfüllen.

      Die Menschen suchen nach Alternativen, aber das geschieht, ohne dass sie die politischen Parteien daran beteiligen, da sich alle als unfähig erwiesen haben. Das Vorgehen in vielen Ländern war ganz anders als bei früheren Protesten. Es waren Aktionen, die in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und an Orten stattfanden, an denen die Zukunft düster aussieht. Die meisten jungen Menschen werden nur studieren können, wenn sie erhebliche Summen aufbringen, und schon bald wird die Bevölkerung einem Zweiklassengesundheitssystem ausgesetzt sein. Die kapitalistische Demokratie setzt heute eine grundlegende Übereinstimmung der wichtigsten im Parlament vertretenen Parteien voraus, sodass ihr noch dazu durch Mäßigung begrenztes Gezänk völlig unbedeutend wird. Diese Ideologie kann als Demokratismus bezeichnet werden, aber die Demokratie an sich bietet keine wirklichen Alternativen.

      Die Besetzungen und Straßenproteste gegen den Kapitalismus ähneln in gewisser Weise den Protesten der Bauern in früheren Jahrhunderten. Unannehmbare Lebensumstände führen zu Aufständen, die dann meist zerschlagen werden oder von sich aus abflauen. Wichtig ist, dass sie oft Vorboten dessen sind, was kommen wird, wenn sich die Lage nicht bessert. Keine Bewegung kann überleben, wenn sie nicht eine dauerhafte demokratische Struktur schafft, die die politische Kontinuität wahrt. Je breiter die Unterstützung für eine solche Bewegung ist, desto notwendiger ist es, dass sie in irgendeiner Form organisiert wird.

      Die südamerikanischen Rebellionen gegen den Neoliberalismus und seine globalen Institutionen sind in dieser Hinsicht vorbildlich. Große und erfolgreiche Kämpfe gegen den IWF in Venezuela, gegen die Wasserprivatisierung in Bolivien und gegen die Stromprivatisierung in Peru schufen die Grundlage für eine neue Politik, die in den beiden erstgenannten Ländern sowie in Ecuador und Paraguay bei den Wahlen triumphierte. Nach ihrer Wahl begannen die neuen Regierungen mit der Umsetzung der versprochenen sozialen und wirtschaftlichen Reformen – mit unterschiedlichem Erfolg.

      Den Rat, den Professor H. D. Dickinson 1958 der Labour-Partei in Großbritannien gab, lehnte diese zwar ab, aber rund vierzig Jahre später akzeptierten ihn die bolivarischen Führer in Venezuela und Bolivien:

      Wenn der Wohlfahrtsstaat überleben soll, muss er eine eigene Einkommensquelle finden, auf die er einen Anspruch hat, der vor dem eines […] Gewinnempfängers rangiert. Die einzige Quelle, die ich erkennen kann, ist die des Eigentums an Produktionsmitteln. Der Staat muss auf die eine oder andere Weise in den Besitz eines sehr großen Teiles des Landes und des Kapitals kommen. Das ist vielleicht keine beliebte Politik, aber wenn sie nicht verfolgt wird, wird die beliebte Politik der verbesserten sozialen Dienstleistungen unmöglich werden. Man kann Konsumgüter nicht auf die Dauer sozialisieren, wenn man zuvor nicht die Produktionsmittel sozialisiert hat.

      Die Regierenden dieser Welt werden in diesen Worten kaum mehr als den Ausdruck von Utopismus sehen, aber sie irren sich. Denn eben dies sind die Strukturreformen, die wirklich notwendig sind, und nicht die, die die EU vorantreibt. Notwendig ist eine vollkommene Kehrtwende, der das öffentliche Eingeständnis vorausgeht, dass das Wall-Street-System nicht funktioniert hat und nicht funktionieren konnte und deshalb aufgegeben werden muss.

      Das gaullistische Frankreich wollte, dass die Europäische Union eine neutrale Kraft werde und einige in Deutschland wollten dasselbe. Viele in der Europäischen Union entwickelten langsam die folgende Idee: Wenn sich Europa zu einer Großmacht entwickeln würde, dann könnte es im Kalten Krieg zwischen Russen und Amerikanern vermitteln. Es könnte sich mit einer eigenständigen Politik, eigenständigen Positionen und einer eigenständigen Gesellschaftsorganisation selbstständig machen.

      Aber schon bald geschah das Unvermeidliche: Die vom deutschen Kanzler Konrad Adenauer General de Gaulle schon in den 1950er-Jahren vorhergesagte Wiedervereinigung Deutschlands veränderte das Gesicht Europas noch einmal. Das wiedervereinigte Deutschland wurde zur Europa dominierenden Macht, und trotz ihrer falschen Bescheidenheit freute sich die deutsche Elite, wieder ins Rampenlicht zu treten. Die Vereinigten Staaten erkannten, dass die einzige Möglichkeit, Europa jetzt daran zu hindern, zu mächtig zu werden, darin bestand, die Union zu verwässern