Tariq Ali

Die extreme Mitte


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leicht Sündenböcke, wenn man die wahren Gründe nicht finden kann.

      Die Führer der Europäischen Union haben in weiten Teilen Europas ein Wirtschaftssystem geschaffen, das nicht richtig funktioniert, und nun stehen sie vor dem Problem, dass sich die Menschen in Scharen vom politischen Überbau abwenden, dessen Hauptziel es ist, dieses System um jeden Preis zu verteidigen. Vor allem junge Menschen interessieren sich nicht für die Mainstream-Politik. Viele gehen nicht mehr zur Wahl. Und daran ist nicht die Union, sondern daran sind die Bankiers schuld, die sie beherrschen und die die Politik bestimmen, der die Mitgliedsstaaten folgen müssen.

      Die EU ist das Mutterschiff der extremen Mitte mit dem Unterschied, dass sie im Gegensatz zu den ihr untergeordneten Vasallen keiner gewählten Körperschaft gegenüber verantwortlich ist. Diese Krise wird nicht verschwinden. Die für die von der Troika kontrollierten Länder vorgesehenen weiteren Kürzungen entbehren jeder wirtschaftlichen Begründung. Eine Reihe nicht gewählter Bürokraten, die für Banken, den IWF, die EZB usw. arbeiten, befehlen eigenständigen Regierungen: Dies dürft ihr tun und dies dürft ihr nicht tun! In einigen Fällen entheben sie Premierminister ihres Amtes und setzen neue Premierminister an deren Stelle.

      Wenn das so bleibt, kann es unmöglich besser werden. Wenn Bankiers, die nicht gewählt wurden, über die Bedürfnisse der Menschen in einigen europäischen Ländern entscheiden, was sie tatsächlich tun, wie kann es dann vorwärtsgehen? Aber das ist etwas, das die heutigen unkritischen Verteidiger Europas nicht verstehen. Für sie ist nichts daran auszusetzen, Europa ist großartig, es ist eine großartige Idee, lasst alles beim Alten!

      Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist das liberale Manifest For Europe! des deutschen Grünen Daniel Cohn-Bendit und des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt. Die beiden schreiben: Nur die Europäische Union kann die sozialen Rechte aller europäischen Bürger gewährleisten und die Armut zu beseitigen. Nur Europa kann die Probleme der Globalisierung, die Probleme des Klimawandels und der sozialen Ungerechtigkeit lösen. Das leuchtende Vorbild Europa hat andere Kontinente inspiriert, den Weg der regionalen Zusammenarbeit einzuschlagen.

      Kein Kontinent ist besser gerüstet, seiner Vergangenheit voller Gewalttaten abzuschwören und nach einer friedlicheren Welt zu streben.

      Welches Europa könnten sie wohl meinen? Dies ist ein Blick aus dem Inneren der Blase. Sogar im stärksten der EU-Staaten, in Deutschland, wächst das Unbehagen an der Rolle, die die Nation zu spielen gezwungen wird, und einige Anti-EU-Parteien sind entstanden. Die meisten dieser Parteien sind fehlgeleitet, aber der Grund für ihr Entstehen ist der um sich greifende Verlust an Vertrauen in die Eliten, die die Parteipolitik beherrschen und die die Symbiose zwischen den wie durch eine Nabelschnur miteinander verbundenen großen Banken, großen Unternehmen und der Politik verkörpern. Die Feindseligkeit gegen die EU beschränkt sich nicht auf die Rechtsextremen. Der Mangel an scharfer Kritik an der EU sowohl bei der extremen Mitte als auch bei vielen Linken hat der Rechten eine solche Anziehungskraft verliehen.

      Weit davon entfernt, dass die Kritik an einer geheiligten EU die Reaktion und den nationalen Chauvinismus fördern würde, ist es das Fehlen einer ernsthaften Kritik, das den Prozess noch verschlimmert.

      Habermas ist natürlich ein Philosoph der extremen Mitte. Negri sollte es besser wissen. Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten in Europa ist selten tiefer gewesen. Politisch gesehen verbindet sich die in den Strukturen der EU fehlende demokratische Verantwortung auf schädliche Weise mit der Wirtschaftslehre einer schuldengeplagten Stagnation. An der militärischen Front ist die Mitgliedschaft in der NATO für neue Mitglieder obligatorisch; das bindet sie in eine umfassendere imperiale Strategie ein. Die in der gesamten EU gefeierte Wiedervereinigung Deutschlands hat dazu geführt, dass das Land bei der Festlegung sozialer und wirtschaftlicher Prioritäten zum Schlüsselstaat geworden ist.

      Die Gleichheit der Mitgliedsstaaten wurde nach der Erweiterung zu einem Witz. Selbst als in den beiden Gründerstaaten Frankreich und in den Niederlanden 2005 Mehrheiten gegen die EU-Verfassung stimmten – vor allem weil sie den Neoliberalismus festschrieb –, wurde die in diesen Referenden zum Ausdruck gebrachte Volksmeinung tatsächlich ignoriert. Zurzeit setzt sich die Achse Berlin–Washington im Fall größerer politischer Meinungsverschiedenheiten über die archaischen und autoritären Strukturen der Europäischen Union hinweg. Das deutsch-französische Gleichgewicht ist bedeutungslos und überflüssig geworden. Wenn die Entscheidungen der Deutschen von Washington grünes Licht erhalten, werden sie den anderen Mitgliedsstaaten aufgezwungen.

      Die meisten ihrer Argumente, besonders die scharfe Kritik an der autoritären Verhängung von »Strukturreformen« unter Androhung von Sanktionen, sind stichhaltig und rational. Sie fordern ein Ende des Sadomonetarismus. Aber wer wird die von ihnen empfohlenen Veränderungen herbeiführen? Weder die Politiker der extremen Mitte noch die EZB und ihre Satelliten noch das US-Finanzministerium noch die US-Notenbank. Es ist zu hoffen, dass das Zunehmen sozialer Bewegungen zu ernsthaften Gesprächen über eine alternative Wirtschaft führen wird – aber eine jede Entwicklung in dieser Richtung wird durch jede einzelne Struktur der Europäischen Union behindert. Sie lässt keine Opposition zu.

      Bei der Unterzeichnung der Römischen Verträge verhielt sich die Bevölkerung weitgehend passiv. Jetzt sind einige etwas streitlustiger, aber meist sind es die auf der rechten Seite: in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Italien. Nur in den Ländern Spanien und Griechenland, die jahrelang Erfahrungen mit Bürgerkrieg und Diktatur gemacht haben, sehen wir die Möglichkeit zu etwas anderem. Die Linke fordert die extreme Mitte heraus, aber sie ist unerprobt und muss die Probe erst noch bestehen. Es wäre ein Fehler, wenn sie die Legitimität der EU und ihrer Institutionen in ihrer jetzigen Form einfach akzeptieren würde.

      Der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck hat im letzten Kapitel seines Buches Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus den Umriss einer neuen, demokratischen europäischen Verfassung skizziert, die, dem Kontinent entsprechend, eine kulturell vielfältige und sozial heterogene Realität widerspiegelt. Die Kaufleute des Status quo haben dem Europäischen Parlament zwar einige weitere Befugnisse, aber keine Souveränität eingeräumt. Die größte Fraktion im Parlament nutzte dies, um den Luxemburger Jean-Claude Junker zum neuen Präsidenten zu wählen. Die Wahl eines Politikers, der das kleine Herzogtum zur Geldwäsche bevollmächtigte und zu einem Steuerparadies für Reiche machte, war eine symbolische Wahl. Alles sollte den gewohnten Gang gehen.

      Wer wird die Nabelschnur durchtrennen? Die extreme Rechte oder neue Kräfte der Linken? Dies bleibt die große unbeantwortete Frage. Die Zukunft vieler EU-Länder und in der Tat auch der Europäischen Union selbst (wie sie heute beschaffen ist) wird vom Verlauf der Krise in den nächsten Jahren abhängen.

      8 Online unter: www.euromemorandum.eu.

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