Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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gibt es noch eine Reihe weiterer Weitere zentrale TeilgebieteGebiete, die Berührungspunkte zu allen Kerngebieten aufweisen. (Man sagt auch, dass sie quer zu den Kerngebieten liegen.) So untersucht der ErstspracherwerbErstspracherwerb zum Beispiel, wie wir als Kinder zu unserer Muttersprache kommen. Zum Erwerb unserer Muttersprache gehört aber natürlich nicht nur der Erwerb von bestimmten Lauten oder von bestimmten Wörtern, sondern auch die Kompetenz zur Bildung von Sätzen und deren angemessene Verwendung in einer konkreten Situation (dass man jemanden mit »Guten Morgen!« eben normalerweise morgens begrüßt und nicht abends). Ähnlich ist es im Fall der OrthographieOrthographie: Wenn ich das Schriftsystem des Deutschen untersuche, dann kann das bei der Worttrennung die Struktur von Wörtern betreffen und bei der Zeichensetzung die Struktur von Sätzen. Und so weiter und so fort. Während wir im ersten Teil dieser Einführung die Kerngebiete in ihren Grundzügen darstellen, werden wir im zweiten Teil auf einige dieser quer liegenden Gebiete eingehen. Neben dem Erstspracherwerb und der Orthographie sind dies Sprachverarbeitung, Sprachwandel und dialektale Variation: Die SprachverarbeitungSprachverarbeitung beschäftigt sich mit den kognitiven Prozessen, die bei der Produktion und bei der Rezeption von sprachlichen Ausdrücken ablaufen. In der SprachgeschichteSprachgeschichte wird untersucht, wie sich Sprache über die Zeit verändert, vom Alt- über das Mittel- und Frühneuhochdeutsche bis hin zum Gegenwartsdeutschen. Und unter dialektaler VariationDialektologie sollte sich jeder etwas vorstellen können, der nicht gerade im Raum Hannover/Braunschweig aufgewachsen ist. Es ist klar, dass wir hier aus verschiedenen Gründen eine Auswahl treffen mussten (so konnte z. B. der Bereich des Zweitspracherwerbs nicht berücksichtigt werden), aber wir denken dennoch, ein so breites Feld abgedeckt zu haben, dass man einen guten Eindruck von der Vielfalt des Faches bekommt.

      Abb. 1.3: Weitere Gebiete der (Germanistischen) Linguistik

      [11]1.3 Weiteres zur Konzeption dieser Einführung

      Im letzten Abschnitt wurde bereits angedeutet, dass diese Einführung inhaltlich in Zweiteilungzwei größere Teile gegliedert ist: Kernbereiche und Querschnittsbereiche. Diese Einteilung ergibt sich daraus, dass die Querschnittsbereiche auf die Kernbereiche aufbauen. Ergänzt werden diese beiden Bereiche durch ein methodisches Kapitel »Projektorientiertes Arbeiten«, das über die Webseite des Verlags zur Verfügung gestellt wird.

      Bei der Anordnung der Kernbereiche gibt es im Allgemeinen zwei Möglichkeiten. Der klassische Aufbau beginnt bei den kleinsten sprachlichen Einheiten, den Lauten und schreitet fort zu den größeren Einheiten wie Wort, Satz und Text. Die Alternative ist, diesen Vom Großen zum KleinenAufbau auf den Kopf zu stellen und mit Texten zu beginnen. Wir haben uns in dieser Einführung bewusst für diese Möglichkeit entschieden, da wir Texte in unserem Alltag (mehr oder weniger) bewusst wahrnehmen und der Einstieg in die Linguistik damit an etwas anknüpft, womit wir zumindest vortheoretisch vertraut sind. Außerdem haben wir die Hoffnung, dass sich die verschiedenen Begriffsbildungen wie Phrase, Morphem oder Phonem auf diese Weise besser motivieren lassen. Diese Vorgehensweise erfordert allerdings, dass man an der ein oder anderen Stelle schon Begriffe andeutet, ohne sie an Ort und Stelle gleich präzise einführen zu können.

      Wie schon bei der Auswahl der Teilgebiete haben wir uns auch bei der Auswahl der Phänomene in diesen Teilgebieten bewusst Bewusste Beschränkungbeschränkt, um die einzelnen Kapitel nicht zu umfangreich werden zu lassen und damit noch verdaulich zu gestalten. Das Ziel war, dass man mit den kürzeren Kapiteln ein bis zwei und mit den längeren Kapiteln zwei bis drei Sitzungen einer einführenden Vorlesung gestalten kann. Mit insgesamt zwölf Kapiteln sollte also eine Einführungsvorlesung komplett abgedeckt werden können. Unser Ziel war dezidiert nicht, dass in jedem Kapitel alle relevanten Phänomene zur Sprache kommen. So haben wir im Kapitel zu Text und Diskurs zum Beispiel vollständig auf die Gesprächsanalyse verzichtet (die ein eigenes Kapitel rechtfertigen würde) und im Kapitel zur Pragmatik haben wir den Bereich der Informationsstruktur und den der (pragmatischen) Präsupposition ausgespart. Ähnliches gilt für die anderen Kapitel. Das kann man sicher auf der einen Seite bedauern. Auf der anderen Seite wird so aber vermieden, dass die einzelnen Kapitel überfrachtet oder Themen nur oberflächlich angesprochen werden. Unseres Erachtens sollte man sich immer bewusst sein, dass die Darstellungen in den Einzelkapiteln keine Einführungen in die Teilgebiete ersetzen, sondern einen ersten, dabei gerne auch tiefergehenden Einblick in das Gebiet geben sollen. [12]Und denjenigen, die auf den Geschmack gekommen sind, empfehlen wir jeweils die weiterführende Literatur.

      Was die Strukturierung innerhalb der Kapitel betrifft, sollten wir noch darauf hinweisen, dass sich dort immer wieder abgesetzte und grau hinterlegte VertiefungsboxenBoxen finden. Diese Vertiefungsboxen sind für weiterführende Diskussionen (oder fortgeschrittene Studierende) gedacht und können beim ersten Lesen übersprungen werden.

      Die eine oder der andere wird außerdem schon festgestellt haben, dass wir in diesem einführenden Kapitel nicht überall Geschlechtergerechte Sprachegeschlechtergerecht formuliert haben. Wir haben von dem Sprecher und dem Adressaten gesprochen, aber von den Germanist*innen. Im Sinne einer besseren Lesbarkeit haben wir uns bewusst entschieden, bei technischen Begriffen (die keine guten Alternativen zulassen) wie Sprecher oder Adressat das generische Maskulinum zu verwenden. Bei (im linguistischen Kontext) nicht-technischen Begriffen wird auch das generische Femininum verwendet (z. B. Ärztin). Bei nicht-generischen Verwendungen und dort, wo sich die Leser*in oder ein konkreter Personenkreis mehr oder weniger direkt angesprochen fühlen könnte, machen wir jedoch vom Gendersternchen Gebrauch, das sich gegenüber anderen Binnenvarianten immer mehr durchzusetzen scheint.

      Wie bei jeder größeren Arbeit waren auch an dieser Einführung mehr Menschen beteiligt, als am Ende auf dem Buchdeckel stehen. Und hier ist der Ort, allen DanksagungDank zu sagen für die großartige Unterstützung, ob in Form von Kommentaren und Anregungen, ob beim Erstellen des Literaturverzeichnisses oder beim Korrekturlesen oder am Ende in Form von Kürzungsvorschlägen. Namentlich danken wollen wir in alphabetischer Reihenfolge: Oliver Bott, Jenny Diener, Heiner Drenhaus, Fabian Ehrmantraut, Luise Ehrmantraut, Anne Eiswirth, Peter Gallmann, Nele Hartung, Julia Hertel, Natascha Immesberger, Sergey Kulakov, Robin Lemke, Philipp Rauth, Lisa Schäfer, Jessica Schmidt, Katrin Schneider, Josef Schu, Sophia Voigtmann und Magdalena Wojtecka. Zwei Personen möchten wir an dieser Stelle aber ganz besonders danken. Das ist zum einen Julia Stark, die mit ihren Illustrationen den streckenweise sicherlich auch etwas dichten Text aufgelockert hat, und zum anderen Marga Reis, ohne die wir beide ganz sicher heute nicht dort wären, wo wir sind. Danke.

      Ingo Reich & Augustin Speyer

      Im März 2020

      [13]2 Textlinguistik: Alltägliches

      Sprache ist für uns (im Normalfall) etwas sehr Selbstverständliches, etwas wovon wir im Sprache im AlltagAlltag einfach Gebrauch machen, ohne groß darüber nachzudenken: Wir lesen zum Frühstück unsere Zeitung, wir schreiben im Büro einige Mails, wir diskutieren in unseren Lehrveranstaltungen, wir tauschen in der Mittagspause Neuigkeiten aus, wir schreiben an einer Hausarbeit oder einer Publikation, wir verabreden uns mit unseren Freunden zum Essen und lesen abends noch etwas in einem spannenden Buch.

      2.1 Sprachliche Kommunikation

      Sprache dient uns im Alltag also (vor allem) zur Kommunikation, das heißt in erster Annäherung, sie dient der gezielten Vermittlung Information und Kommunikationvon Information. Der Begriff der sprachlichen KommunikationKommunikation steht damit im Zentrum des Sprachgebrauchs. Nähern wir uns diesem Begriff eher deskriptiv an (und verweisen hier nur nebenbei auf komplexe Modelle wie das Organon-Modell von Bühler 1934 oder das Sender/Empfänger-Modell von Shannon & Weaver 1949), indem wir eine nicht untypische Situation betrachten: Erna ist bei Lisbeth zu Besuch. Lisbeth bietet ihr zunächst einen Platz an und fragt dann:

      Abb.