Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


Скачать книгу

gar nicht entschieden werden.

      Komplexe Einheiten sprachlicher KommunikationKommunikation erschöpft sich natürlich nicht in einzelnen Äußerungen, sondern beinhaltet in der Regel eine Folge mehrerer Äußerungen. So könnte man sich vorstellen, dass Erna auf Lisbeths Frage in (2.1) mit den Äußerungen in (2.2) und (2.3) antwortet.

      [21]Die Folge der Äußerungen in (2.1) bis (2.3) weist nun zwei zentrale strukturelle Eigenschaften auf: Zum einen beziehen sich die Äußerungen offenbar inhaltlich aufeinander und sind in diesem Sinne miteinander verbunden. Man sagt, dass sie eine kohärenteKohärenz Folge von Äußerungen darstellen. Zum anderen bilden sie als Ganzes in dem Sinne eine thematische Einheit, als sich alle Äußerungen letztlich um die (hier explizit aufgeworfene) Frage drehen, ob Erna eine Tasse Kaffee möchte. Wir werden später von einer QuaestioQuestioDiskurstopik (lateinisch für Frage), einem DiskurstopikDiskurstopik oder einer Question under Discussion (QUD)Question under DiscussionDiskurstopik sprechen. Kohärente und thematisch (im Wesentlichen) einheitliche Abfolgen von Äußerungen werden in der einschlägigen Literatur als Text oder Diskurs bezeichnet. (Wir werden im Folgenden zunächst die Rolle des Kohärenzbegriffs in den Vordergrund stellen und erst danach auf Quaestiones/Diskurstopiks eingehen.)

      Wir bezeichnen eine Abfolge von Äußerungen als einen TextText oder DiskursDiskursText, wenn sie (in einem noch zu präzisierenden Sinne) kohärent und thematisch einheitlich ist.

      Ob eine gegebene Sequenz von mündlichen oder schriftlichen Äußerungen als ein Text oder Diskurs bezeichnet werden kann, hängt natürlich zunächst von der Was alles ist ein Text?Definition ab. In der Textlinguistik ist die Definition des Textbegriffs eine vieldiskutierte Frage und entsprechend gibt es eine Vielzahl unterschiedlichster Ansätze (man vergleiche z. B. Adamzik 2016 für eine ausführliche Darstellung). So kann man z. B. die Frage stellen, ob die Kurznachrichten in Abbildung 2.3 und damit insbesondere die benutzten Emojis und Emoticons als Text bzw. als Teile eines Texts aufzufassen sind. Beantwortet man diese Frage positiv (und es spricht wohl einiges dafür), dann wird man in der Textdefinition neben rein sprachlichen Äußerungen generell auch symbolische Äußerungen (mit einem kommunikativen Ziel) zulassen müssen. (Wir haben das in der obigen Definition bewusst offengelassen.) Auf der anderen Seite wird man dann auch in Extremfällen (wie z. B. bei einem Stoppschild) von einem Text sprechen müssen (was vielleicht nicht mehr ganz so intuitiv ist). Und was ist mit der Zutatenliste in einem Rezept? Oder mit der bildlichen Illustration, die uns einen Eindruck vermitteln soll, wie das Resultat unserer kulinarischen Bemühungen am Ende aussehen sollte? Hier wird letztlich entscheidend sein, ob man überzeugend argumentieren kann, dass mit diesen Elementen ein kommunikatives Ziel (im Sinne eines Sprechakts) verbunden ist.

      Eine ebenfalls häufig gestellte Frage ist, ob es überhaupt Sequenzen von (natürlichen) Äußerungen gibt, die nichtGibt es inkohärente Texte? kohärent und damit auch kein Text sind. Was ist beispielsweise mit einem Dada-Gedicht? Oder wenn Erna auf Lisbeths Frage mit Die Quadratwurzel von 49 ist 7 ›antwortet‹? Es ist sicherlich möglich, dass ein Sprecher Folgen von Äußerungen produziert, die als nicht kohärent intendiert sind. Tatsache ist aber auch, dass ein Rezipient immer nach einem inhaltlichen Zusammenhang suchen wird, auch wenn die fraglichen Äußerungen völlig zusammenhangslos erscheinen. So wird am Ende ein Dada-Gedicht dennoch zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Betrachtung und Lisbeth wird Ernas Äußerung wahrscheinlich in der Art von Natürlich will ich einen Kaffee! Wie kannst du da nur fragen?! interpretieren.

      Die Frage, was alles ein Text ist und ob man zwischen Texten und Nicht-Texten unterscheiden kann bzw. muss, wird häufig mit Bezug auf einen sehr einflussreichen Vorschlag von de Beaugrande & Dressler (1981) diskutiert (vgl. hierzu z. B. die Diskussion in Gansel & Jürgens 2009 oder Averintseva-Klisch 2013), die insgesamt 7 Text(ualitäts)kriterienTextualitätskriterien Textualitätskriterienannehmen, die alle für sich genommen notwendigen und gemeinsam hinreichenden Charakter haben (sollen): Kohäsion, Kohärenz, Intentionalität, Akzeptabilität, Informativität, Situationalität und Intertextualität. Wir werden uns im Folgenden auf Fragen der Kohärenz und Kohäsion beschränken, da sich die meisten der verbleibenden Kriterien bereits aus der Definition von Kommunikation (Intentionalität), Eigenschaften der Kommunikationssituation (Situationalität), und unabhängigen pragmatischen Prinzipien (Informativität) erklären lassen. Ergänzt wird die Diskussion dagegen um den Aspekt der Topikalität.

      2.4 Zur Mikrostruktur von Texten: Kohärenz und Kohäsion

      Kohärenz ist also ein konstitutives Merkmal von Texten und Diskursen. Kohärenzrelation und rhetorische SubordinationFormal ist KohärenzKohärenz eine inhaltliche Beziehung (eine Relation) zwischen zwei Diskursabschnitten, häufig (wenn auch nicht notwendigerweise) zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden (kommunikativen) Äußerungen (vgl. z. B. Hobbs 1979). So sind (2.1) und (2.2) über die Antwortrelation und (2.2) und (2.3) über eine Begründungsrelation verknüpft. Die beiden genannten KohärenzrelationenKohärenzrelation haben dabei genuin asymmetrischen Charakter: Eine Antwort setzt eben eine Frage voraus, und eine Erklärung setzt etwas voraus, das erklärt werden soll. In diesem Sinne ist z. B. die Äußerung (2.3) hier der Äußerung (2.2) untergeordnet. Man spricht auch von rhetorischer [23]SubordinationSubordinationrhetorische. Subordinierende Relationen lassen sich graphisch wie in Abbildung 2.4 skizziert darstellen.

      Abb. 2.4: Graphische Darstellung einer subordinierenden Relation

      Angenommen, Erna würde (2.4) statt (2.3) äußern:

      Dann hätte ihre Antwort eine etwas andere Struktur: Sowohl die Äußerung in (2.2) als auch die Äußerung in (2.4) würden sich dann gleichermaßen auf die übergeordnete Frage beziehen, was Erna trinken möchte. In diesem Sinne hat die kontrastierende Beziehung zwischen den Äußerungen in (2.2) und (2.4) einen symmetrischen bzw. nebenordnenden Charakter. Man spricht dann auch Kohärenzrelation und rhetorische Koordinationvon rhetorischer KoordinationKoordinationrhetorische. Koordinierende Relationen können graphisch wie in Abbildung 2.5 angedeutet dargestellt werden.

      Abb. 2.5: Graphische Darstellung einer koordinierenden Relation

      Mit dem Begriff der KohärenzrelationKohärenzrelation bezeichnet man eine inhaltliche Beziehung zwischen zwei (oder mehr) Äußerungen. Dabei wird auf diskursstruktureller Ebene zwischen koordinierenden und subordinierenden Relationen unterschieden.

      Markiert man nun außerdem enger zusammengehörende Diskurseinheiten mit umschließenden Boxen, dann kann die inhaltliche Struktur des Dialogs [24]bestehend aus (2.1), (2.2), (2.3) und (2.4) in der Art von Abbildung 2.6 Graphische Repräsentation von Diskursenrepräsentiert werden.

      Abb. 2.6: Graphische Repräsentation der Mikrostruktur des Diskurses (2.1) – (2.4)

      Mit der Struktur in Abbildung 2.6 sollte deutlich geworden sein, dass Texte und Diskurse eine komplexe inhaltliche Struktur aufweisen können. Gleichzeitig sollte aber auch deutlich geworden sein, dass diese in systematischer Weise erfasst und dargestellt werden kann. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass jede neue (kommunikative) Äußerung über eine Kohärenzrelation an einen früheren Diskursabschnitt angebunden werden Kohärenzaxiommuss (KohärenzaxiomKohärenzaxiom). Wie diese Anbindung im Einzelnen erfolgt, ist eine nicht triviale Frage. Klar ist, dass Anbindungen nicht beliebig erfolgen.

      Obige Darstellung orientiert sich stark an der Segmented Discourse Representation Theory (SDRT) wie sie in Asher & Lascarides