Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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Thompson (1988) entwickelten Rhetorical Structure Theory (RST). Welche Kohärenzrelationen im Einzelnen angenommen werden, variiert stark von Theorie zu Theorie. In den meisten Modellen finden sich aber zumindest Kohärenzrelationen, die entweder Antwortbeziehungen (answer), Erklärungen (explanation), Erläuterungen (elaboration), Folgerungen (consequence), Unerwartetes (violated expectations), Kontrastbeziehungen (contrast), parallele Strukturen (parallel) oder die Darstellung einer Abfolge von Ereignissen (narration) zum Gegenstand haben. Manche dieser Kohärenzrelationen werden klar über Konjunktionen oder Konjunktionaladverbien kommuniziert. Die subordinierende Konjunktion weil etabliert z. B. notwendig eine (wie auch immer geartete) Form der Begründung. Die Konjunktion und dagegen ist ziemlich flexibel, sie kann als und weil (explanation) oder auch als und dann (narration) interpretiert werden, kann aber auch parallele Fortführungen wie in Lisbeth mag Muffins und Erna Donuts einleiten. Die Konjunktion aber ist nicht ganz so flexibel wie und, aber sicher flexibler als weil: Sie kann kontrastive Beziehungen etablieren (wie in Lisbeth mag Muffins, aber keine Donuts), sie kann aber auch das Nichteintreffen von Erwartetem ausdrücken (Greuther Fürth spielt immer oben mit, steigt aber nie auf). Man sieht an diesen Beispielen, dass es zum einen keinen Konsens gibt, was Art und Anzahl von Kohärenzrelationen betrifft, und dass zum anderen die Beziehung zwischen Kohärenzrelation und kohäsiven Mitteln ziemlich komplex ist. Ein guter erster Überblick findet sich in Kehler (2002).

      Betrachtet man nochmals den gerade besprochenen Text, dann sieht man schnell, dass Kohärenzrelationen nicht notwendigerweise sprachlich kodiert werden, sondern unter Umständen kontextuell inferiert werden müssen. So wird z. B. an keiner Stelle explizit gesagt, dass (2.3) als eine Erklärung für (2.2) verstanden werden soll. Aber wir wissen, dass man nach drei Tassen Kaffee bereits eine Menge Koffein zu sich genommen hat und zu viel Koffein nicht gut für uns ist. Daher ist es einfach plausibel, dass dieser Sachverhalt als Grund für die negative Antwort aufzufassen ist. Etwas anders liegt dagegen der Fall bei der Äußerung in (2.4). Die Äußerung in (2.4) wird durch die (syntaktisch) koordinierende Konjunktion aber eingeleitet, mit der inhaltlich explizit ein Kontrast zu einer vorhergehenden Aussage ausgedrückt wird. An dieser Stelle sind wir also nicht auf Mutmaßungen angewiesen. Konjunktionen wie und, aber, weil oder wenn und Konjunktionaladverbien wie trotzdem, deswegen oder dennoch haben (unter anderem) offenbar die Funktion, die Verschränkung zweier Diskurseinheiten sprachlich zu vermitteln. Man spricht hier auch Kohäsion und kohäsive Mittelvon KohäsionKohäsion und bezeichnet die sprachlichen Ausdrücke als kohäsive Mittelkohäsive Mittel (vgl. z. B. Halliday & Hasan 1976).

      Neben diesen expliziten Verknüpfungen zweier Diskurseinheiten gibt es weitere sprachliche Phänomene, die Bezüge zwischen (Teilen) zwei(er) Diskurseinheiten herstellen. Eines dieser Phänomene ist die Anaphorische Ausdrückeanaphorische Verwendung von Pronomina, wie man sie in dem folgenden kleinen Textbeispiel beobachten kann:

      [26]Pronomina wie das Personalpronomen sie in (2.6) zeichnen sich dadurch aus, dass ihr referenzieller Bezug (auf welche Person sich der Sprecher mit dem Pronomen beziehen möchte) entweder situativ (wir sprechen dann von einer deiktischen Verwendungdeiktischer Gebrauch) oder sprachlich über einen Vorgängerausdruck (ein AntezedensAntezedens) vermittelt werden muss (wir sprechen dann von einer anaphorischen Verwendunganaphorischer Gebrauch). In unserem Beispiel ist dieser Vorgängerausdruck der (unterstrichene) Eigenname Erna in (2.5): Wenn wir (2.6) im Kontext von (2.5) hören oder lesen, dann gehen wir sehr schnell davon aus, dass sich das Pronomen sie auf Erna beziehen soll. Würden wir den Satz in (2.6) isoliert lesen, dann könnten wir gar nicht sagen, was genau mit ihm kommuniziert werden soll. Die anaphorische Verwendung von pronominalen Ausdrücken erzeugt auf diese Weise weitere inhaltliche und strukturelle Verschränkungen im Diskurs und trägt so zum Eindruck eines kohärenten Textes wesentlich bei (vgl. z. B. Hobbs 1979).

      Das zweite in diesem Kontext häufig genannte EllipsenPhänomen ist die EllipseEllipse. Mit dem Begriff ›Ellipse‹ bezeichnet man verschiedene Formen der Auslassung von sprachlichen Ausdrücken (vgl. z. B. Klein 1993, Reich 2018). Ähnlich wie bei anaphorisch verwendeten Pronomina kann die Auslassung sprachlicher Ausdrücke ebenfalls situativ oder sprachlich motiviert sein. Ist sie sprachlich motiviert, dann gibt es wie bei den anaphorischen Verwendungen von Pronomina einen sprachlichen Vorgängerausdruck (ein Antezedens), über das die Auslassung rekonstruiert werden kann. Ein Beispiel findet sich bereits in unserem obigen Mini-Diskurs (2.1) bis (2.3): In der Äußerung (2.1) von Lisbeth wird eine Tasse Kaffee thematisiert, in der Äußerung (2.3) von Erna wird jedoch nur noch von drei Tassen gesprochen und nicht (was präziser wäre) von drei Tassen Kaffee. Im Kontext von (2.1) kann Erna in ihrer Äußerung offenbar auf die explizite Erwähnung von Kaffee verzichten, da über den Kontext klar ist, dass es um Kaffee geht. Hätte Lisbeth dagegen Eine Tasse Tee? geäußert, dann würden wir Ernas Äußerung so interpretieren, dass sie bereits drei Tassen Tee getrunken hat. Ellipsen führen also zu vergleichbaren inhaltlichen und strukturellen Verschränkungen im Diskurs, wie wir das bereits bei den anaphorischen Verwendungen von Pronomina gesehen haben. Entsprechend tragen auch Ellipsen wesentlich zum Eindruck von Textkohärenz bei.

      [27]2.5 Zur Makrostruktur von Texten: Diskurstopiks

      Wir haben gerade gesehen, dass Kohärenzrelationen gewissermaßen der Kitt sind, der einzelne Äußerungen zu komplexeren Gebilden zusammenfügt und in dieser Weise auf Mikrostruktur und Makrostruktureiner mikrostrukturellen EbeneMikrostruktur (bottom-up) die Grundlage für einen Text bzw. Diskurs schafft. Am Beispiel der Äußerungen in (2.1) bis (2.4) haben wir außerdem gesehen, dass diese kohärente Folge von Äußerungen in dem Sinne eine thematische Einheit bildet, als mit der Äußerung (2.1) explizit eine Frage aufgeworfen wird, die mit den Äußerungen in (2.2) bis (2.4) beantwortet wird bzw. diese Äußerungen zumindest inhaltlich mehr oder weniger direkt auf (2.1) Bezug nehmen. (Dies wurde durch die große umschließende Box in Abbildung 2.6 angedeutet.) In diesem Sinn definiert die Frage in (2.1) also, worum es inhaltlich in diesem Diskurs geht, was der Gegenstand, das Topik des Diskurses ist. In unserem Fall wäre das die Frage, was Erna zum Trinken möchte. Da das Diskurstopik den thematischen Rahmen aller Äußerungen des Diskurses vorgibt, kann man hier von einer makrostrukturellen EbeneMakrostruktur (top-down) sprechen.

      Mit dem Begriff DiskurstopikDiskurstopik bezeichnen wir das Thema, den Gegenstand eines Textes oder Diskurses, also das, worum es in einem Text oder Diskurs (primär) geht.

      Die Annahme Diskurstopiks und die Struktur von Textenvon Diskurstopiks als zentrales Element der Diskursstruktur lässt zunächst einmal offen, wie Diskurstopiks im Einzelnen zu charakterisieren sind (vgl. z. B. van Dijk 1977) und in welcher Weise sie die Struktur eines Textes determinieren. In neueren Ansätzen wird häufig angenommen, dass das Format der Frage/Antwort-Struktur das prägende Strukturelement von Texten und Diskursen ist. Die Idee ist, dass jeder Text gewissermaßen als Antwort auf eine explizit oder implizit aufgeworfene Frage betrachtet werden kann. So beantwortet in unserem Beispieldiskurs die Äußerung in (2.2) die explizite Frage in (2.1). Die Äußerung in (2.2) wirft aber wiederum implizit die Frage auf, warum Erna keinen Kaffee möchte, eine Frage, die durch die Äußerung in (2.3) beantwortet wird. Die Äußerung in (2.4) schließlich bezieht sich genau genommen nur indirekt auf die Frage in (2.1) und wirft implizit die allgemeinere Frage auf, was Erna trinken möchte (Q). Das übergeordnete Diskurstopik ist damit die Frage Q (was Erna trinken möchte), die im Diskurs über die Teilfragen Q1 (ob Erna Kaffee trinken möchte) und Q2 (ob Erna Wasser trinken möchte) in zwei Schritten beantwortet wird. Schematisch kann die [28]Makrostruktur dann wie in Abbildung 2.7 repräsentiert werden (wobei wir hier der Einfachheit halber auf die Begründung von (2.2) verzichten).

      Abb. 2.7: