Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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ebenfalls über ein Adressfeld und eine Rückadresse, sie verfügen über eine Betreffzeile und einen Zeitstempel. Und der Textteil einer geschäftlichen E-Mail folgt ebenfalls demselben Muster eines Geschäftsbriefs. Im Gegensatz zum Geschäftsbrief ist bei einer E-Mail jedoch standardmäßig die Möglichkeit von Blindkopien vorgesehen, der (meist versteckte) Header enthält noch zusätzliche Informationen über die Kodierung des Textes, über Servernamen und IP-Adressen. Und nach der Grußformel folgt meist noch eine Signatur mit der klassischen Postadresse und der eigenen Webseite. Möchte man von unterschiedlichen Textsorten sprechen, dann wird man diese Unterschiede als wesentliche einordnen müssen. Kommt man jedoch zu der Auffassung, dass diese Unterschiede nicht wesentlich (und letztlich primär auf Eigenschaften des Mediums zurückzuführen) sind, dann liegt hier lediglich ein Unterschied in der Kommunikationsform vor: elektronisch vs. nicht-elektronisch.

      Empfohlene Literatur

      Adamzik, Kirsten: Textlinguistik: Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. Berlin / New York: de Gruyter, 22016.

      Averintseva-Klisch, Maria: Textkohärenz. Heidelberg: Winter, 2013.

      Brinker, Klaus / Antos, Gerd / Heinemann, Wolfgang / Sager, Sven F.: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. und 2. Halbbd. Berlin / New York: de Gruyter, 2008.

      Gansel, Christina / Jürgens, Frank: Textlinguistik und Textgrammatik. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2009.

      Schwarz-Friesel, Monika / Consten, Manfred: Einführung in die Textlinguistik. Darmstadt: WBG, 2014.

      [33]3 Pragmatik: Gemeintes

      Als ich vor einigen Jahren mit dem Wagen Richtung Saarbrücken gefahren bin, ist mir an der Grenze zum Saarland ein Plakat aufgefallen: »50 Jahre Saarland. Schön, dass du da bist.« Meine erste Reaktion war: »Was für eine nette Begrüßung!« Meine zweite: »Oh, ich bin ja gar nicht gemeint!« Die Ursache meiner kurzzeitigen Verwirrung ist schnell aufgeklärt: Das Plakat spielt mit einer MehrdeutigkeitMehrdeutigkeit (einer AmbiguitätAmbiguitätMehrdeutigkeit), die auf das Pronomen du zurückzuführen ist: Das Pronomen du kann sich bei diesem Plakat einerseits auf das Saarland beziehen. In diesem Fall wird der inhaltliche Bezug (die Referenz) des Pronomens über die vorherige Äußerung »50 Jahre Saarland« vermittelt, und man spricht von Deiktischer und anaphorischer Gebraucheinem anaphorischen Gebrauchanaphorischer Gebrauch. Das Pronomen du kann sich aber andererseits auch auf den Adressaten des Plakats beziehen. In diesem Fall wird die Referenz des Pronomens über nicht-sprachliche Aspekte der Äußerungssituation festgelegt, und man spricht von einem deiktischen Gebrauchdeiktischer Gebrauch.

      Abb. 3.1: Plakat zum 50-jährigen Bestehen des Saarlandes. – © Staatskanzlei des Saarlands

      3.1 Ausdrucksbedeutung und Äußerungsbedeutung

      Am Beispiel deiktisch gebrauchter Ausdrücke lässt sich gut eine Unterscheidung illustrieren, die die inhaltliche Seite sprachlicher Ausdrücke betrifft, die Unterscheidung Äußerungsbedeutungzwischen Ausdrucksbedeutung und ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutung.

      Zunächst sollte man sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass der inhaltliche Bezug, die Referenz des Pronomens du, systematisch von der [34]Äußerungssituation abhängt: Wenn ich, Ingo Reich, an dem Plakat vorbeifahre und es lese, dann konstituiert das eine Äußerungssituation, in der ich, Ingo Reich, der Adressat des Plakats bin. In dieser Situation interpretiere ich das Pronomen du so, dass es sich auf mich, Ingo Reich, bezieht. Wenn mein Kollege Augustin Speyer an dem Plakat vorbeifährt und es liest, dann konstituiert dies eine andere Äußerungssituation, eine Äußerungssituation, in der er der Adressat des Plakats ist. In dieser Situation wird er natürlich das Pronomen du so interpretieren, dass es sich auf ihn, Augustin Speyer, bezieht. Generell wird jeder, der das Plakat liest, das Pronomen du (bei deiktischer Interpretation) so verstehen, dass es sich auf ihn bezieht. Diese kontext-abhängige Referenz von du in einer konkreten Äußerungssituation bezeichnen wir als die Bedeutung der Äußerung des Pronomens du (in dieser Äußerungssituation) oder kurz als die Äußerungsbedeutung von du.

      WoraufAusdrucksbedeutung oder besser auf wen sich das Pronomen du in einer Äußerungssituation bezieht, ist natürlich nicht zufällig. Wir wissen, dass wir uns mit dem Pronomen du auf den Adressaten einer Äußerung beziehen und mit dem Pronomen ich auf den Sprecher. Dieser Aspekt der Bedeutung von du und ich ist etwas, das wir im Erstspracherwerb erlernen müssen und in unserem mentalen Lexikon jeweils als Bedeutung für die beiden Pronomina abgespeichert haben. Diese kontext-unabhängige Bedeutung der beiden Pronomina du und ich bezeichnen wir als Ausdrucksbedeutungihre Ausdrucksbedeutung.

      DerVerankerung Zusammenhang zwischen der Ausdrucks- und der Äußerungsbedeutung von z. B. du lässt sich dann so charakterisieren, dass sich die Äußerungsbedeutung aus der Ausdrucksbedeutung und Eigenschaften der jeweiligen Äußerungssituation ergibt: Mit du beziehen wir uns auf den Adressaten einer Äußerungssituation. Ist Ingo Reich der Adressat in der fraglichen Äußerungssituation, dann bezieht sich das Pronomen du folglich auf Ingo Reich. Ist dagegen Augustin Speyer der Adressat in der Äußerungssituation, dann bezieht sich du eben auf Augustin Speyer. Diese Beziehung lässt sich dabei als eine funktionale beschreiben, d. h., einer Ausdrucksbedeutung und einem Kontext wird eine Äußerungsbedeutung eindeutig zugeordnet. Man sagt auch, dass die Ausdrucksbedeutung im Von der Ausdrucks- zur ÄußerungsbedeutungÄußerungskontext verankertVerankerung wird.

      Die AusdrucksbedeutungAusdrucksbedeutung eines lexikalischen Ausdrucks ist diejenige Bedeutung, die kompetente Sprecher in ihrem mentalen Lexikon abgespeichert haben. Die Ausdrucksbedeutung eines komplexen sprachlichen Ausdrucks ergibt sich aus den Ausdrucksbedeutungen seiner Teile und der Art ihrer Kombination.

      Die ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutung eines lexikalischen Ausdrucks ergibt sich aus dessen Ausdrucksbedeutung und ihrer Verankerung im sprachlichen und nicht-sprachlichen Äußerungskontext. Die Äußerungsbedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus den Äußerungsbedeutungen seiner Teile und der Art ihrer Kombination.

      Die Unterscheidung zwischen der Ausdrucksbedeutung und der Äußerungsbedeutung sprachlicher Ausdrücke nimmt nicht zuletzt deswegen eine so zentrale Stellung ein, weil sie die (oder zumindest eine mögliche) Grenze markiert zwischen den beiden Gebieten, die sich mit der inhaltlichen Interpretation von sprachlichen Ausdrücken Von der Semantik zur Pragmatikbeschäftigen: Semantik und Pragmatik. Während sich die SemantikSemantik auf die Untersuchung von (komplexen) Ausdrucksbedeutungen fokussiert, fallen Fragen der Äußerungsbedeutung in den Bereich der PragmatikPragmatik. Entsprechend wird die Arbeitsteilung zwischen Semantik und Pragmatik häufig auch so charakterisiert, dass sich die Semantik mit kontext-unabhängigen, die Pragmatik dagegen (eher) mit kontext-abhängigenKontext-Abhängigkeit Phänomenen beschäftigt sowie generell mit Fragen des sprachlichen Gebrauchs. Diese Grenzziehung zwischen Semantik und Pragmatik schränkt die Semantik auf einen vergleichsweise engen Bereich ein. Traditionell sieht die Semantik ihr Feld aber auch in dem Bereich der Äußerungsbedeutungen, die (primär) auf der Basis sprachlicher Kodierung oder allgemeiner auf grammatischer Basis zustande kommen. Auf diese Sichtweise werden wir in den Abschnitten 3.2 und vor allem in 3.4 noch zu sprechen kommen.

      Die Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik haben wir auch schon in Kapitel 2 thematisiert und dort die Grenze